Brüssel. Alexis Tsipras dürfte geahnt haben, dass seinem Land am Freitag der Rauswurf aus dem Schengen-Raum drohte. Deshalb zog der griechische Premier, wenige Stunden bevor die 28 Innenminister der EU-Staaten in Brüssel zusammenkamen, die Notbremse und bat offiziell um europäische Hilfe. Zelte, Generatoren, Betten, sanitäre Ausrüstung und Erste-Hilfe-Sets braucht das Land für die fast 50 000 Flüchtlinge, die allein seit dem 1. November 2015 in Hellas angekommen sind – sowie weitere 10 000, die sich schon länger in griechischen Lagern aufhalten.
Aber noch wichtiger war das Ersuchen um 400 Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die den griechischen Beamten an der Grenze zur früheren jugoslawischen Republik Mazedonien helfen sollen. „Endlich fangen sie an, die Schengen-Vorschriften umzusetzen. Das ist ein Durchbruch“, sagte ein hoher EU-Diplomat am Rande des Ministertreffens.
Zuvor war die Stimmung gegenüber Griechenland am Nullpunkt angekommen. „Für ein funktionierendes Schengen-System und freie Binnengrenzen brauchen wir einen funktionierenden Außengrenzen-Schutz“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. „Und der ist mangelhaft. Uns läuft die Zeit davon.“
Viele Flüchtlinge reisen über die Türkei nach Griechenland ein, von wo sie weiter über den Westbalkan in wirtschaftsstarke Länder wie Deutschland und Schweden kommen. Deutschland, Österreich und Schweden kontrollieren deswegen schon wieder verstärkt ihre Grenzen, allerdings ist dies momentan nur bis zu maximal sechs Monate möglich.
Wie dramatisch die Lage ist, sollte eigentlich ein Bericht der EU-Kommission zusammenfassen, der aber einen Tag vorher plötzlich zurückgezogen worden war. Man wolle die Darstellung mit einer Bilanz der Hotspots (Registrierungszentren) und der Flüchtlingsverteilung bis zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in zwei Wochen anreichern, hieß es zur Begründung. Dabei war klar, dass nicht nur die Bilanz ernüchternd ausfallen würde, sondern dass die EU-Behörde auch unbequeme Lösungsvorschläge präsentieren werde. Dazu gehört die Möglichkeit, die Kontrollen an den Übergängen zu einem Staat, der die EU-Außengrenze nicht aus eigener Kraft sichern kann, für zwei Jahre wieder einzuführen. Faktisch würde dies eine Ausgrenzung des betroffenen Landes aus dem Schengen-Raum bedeuten. Dazu passt auch der Vorschlag, die erfahrenen Frontex-Beamten an die Außengrenze der Union beordern zu können, wenn dies notwendig ist – notfalls auch gegen den Willen eines Mitgliedsstaates.
Die Staats- und Regierungschefs sollen am 17./18. Dezember über diese Optionen entscheiden. „Unsere oberste Priorität muss sein, den Schengen-Raum zu erhalten“, betonte die österreichische Innenressort-Chefin Johanna Mikl-Leitner.
Zwar könnten diese Maßnahmen grundsätzlich jeden Mitgliedsstaat treffen. Derzeit richten sich die Vorwürfe aber vor allem an Athen. Griechenland hat seit Jahresanfang rund 700 000 Flüchtlinge weder kontrolliert noch registriert, sondern in die übrige EU weiterreisen lassen – ein glatter Bruch des derzeit gültigen Grenzkodex der Union. Hilfsangebote und -lieferungen der anderen Mitgliedsstaaten nahm Athen nicht an. Und obwohl Flüchtlinge aus Griechenland in andere Mitgliedsstaaten verteilt werden sollten, stellte die Regierung Tsipras dafür keine Flugzeuge zur Verfügung. „Griechenland hat sehr wohl die Möglichkeiten und die Verantwortung, den Korken in die Flasche zu drücken“, sagte ein Diplomat der Wiener Delegation. „Vielleicht haben sie ja jetzt endlich begriffen, dass sie etwas tun müssen, um im Schengen-Raum zu bleiben.“