Tsipras bekommt die Wut der Bürger zu spüren

Erstveröffentlicht: 
04.11.2015
Schulen, Krankenhäuser, Fähren, Straßenbahnen: Der Sparkurs der griechischen Regierung löst Streiks und Proteste im ganzen Land aus

Von Gerd Höhler

 

Athen. Wer am Dienstag auf einer der griechischen Inseln auf die Fähre vom Festland wartete, wartete vergeblich. Die Schiffe lagen fest vertäut an den Piers von Piräus. Mit einem Streik protestieren die Seeleute seit Montag gegen die Kürzung ihrer Rentenansprüche. Es ist nicht der einzige Ausstand. Gut fünf Wochen nach seiner Wiederwahl spürt der griechische Links-Premier Alexis Tsipras Gegenwind. Die Wut der Menschen auf den Sparkurs der Vorgängerregierungen brachte Tsipras an die Macht. Als Oppositionsführer rief er zu Streiks auf, machte bei Kundgebungen mit kämpferisch geballter Faust in der ersten Reihe mit. Jetzt bekommt er selbst den Unmut der Menschen zu spüren. Die Schonzeit ist vorbei.

 

Eine Welle von Streiks und Protesten rollt durch Griechenland. Am Dienstagabend legten die Beschäftigten der Athener U-Bahn, der Straßenbahn und der Stadtbahn die Arbeit nieder. Sie wehren sich gegen die geplante Zusammenlegung der drei Bahngesellschaften, die zum Wegfall von Arbeitsplätzen führen könnte. Am Dienstagmittag waren bereits die Beschäftigten der beiden größten Athener Krankenhäuser, Evangelismos und Attikon, in den Streik getreten. Sie protestieren gegen dramatische Personalengpässe in den Kliniken. Nach Gewerkschaftsangaben sind seit Jahresbeginn rund 17 000 Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen ausgeschieden, weitere 3000 werden bis zum Jahresende pensioniert. Wegen des Sparzwangs können die freien Stellen nicht neu besetzt werden. Bereits am Montag hatten Hunderte Schüler und Lehrer im Athener Stadtzentrum demonstriert, weil Tausende Lehrerstellen nicht besetzt sind. An den Schulen fallen deshalb viele Unterrichtsstunden aus, Bücher und andere Lehrmittel werden knapp.

 

Angetreten war Tsipras Anfang des Jahres mit dem Versprechen, die Kreditverträge mit den internationalen Geldgebern zu „zerreißen“ und den Sparkurs zu beenden. Stattdessen musste er im Juli ein neues, noch härteres Anpassungsprogramm unterschreiben, um weitere Hilfskredite lockerzumachen, ohne die Griechenland bereits pleite wäre. Die Zeche zahlen die Bürger. Ihnen flattern jetzt die Bescheide der unpopulären Immobiliensteuer ins Haus, die Tsipras eigentlich abschaffen wollte. Tatsächlich sollen jetzt viele Immobilienbesitzer noch mehr zahlen. Die Steuer trifft sehr viele Menschen, weil 76 Prozent der Griechen Wohneigentum haben – gegenüber 53 Prozent in Deutschland, 57 Prozent in Österreich und nur 44 Prozent in der Schweiz.

 

Dass sich die Proteste bald wieder legen, ist nicht zu erwarten – im Gegenteil. Für diesen Mittwoch haben die griechischen Rentnervereine in Athen zu Demonstrationen gegen Rentenkürzungen aufgerufen. Die Landwirte bereiten Straßenblockaden gegen die geplante Streichung ihrer Steuerprivilegien vor. Noch im November muss das Athener Parlament ein weiteres Sparpaket verabschieden, um ausstehende Kreditraten loszueisen. Die Dachverbände der Gewerkschaften haben bereits für den 12. November einen Generalstreik angekündigt – für den Tag, an dem das Plenum voraussichtlich über das neue Gesetz abstimmen soll. Es wird weitere Einschnitte bei den Renten und erneut höhere Steuern beinhalten. Politisch zumindest genauso brisant: Die bisher geltenden Regeln, die Wohnungsbesitzer vor Zwangsräumungen schützen, wenn sie ihre Hypothekenkredite nicht mehr bedienen können, sollen gelockert werden.

 

Wie sich der wachsende Unmut der Menschen auf die politischen Kräfteverhältnisse auswirkt, ist noch unklar. Die Wahl vom 20. September konnte Tsipras mit einem fast so hohen Stimmenanteil gewinnen wie den ersten Urnengang Ende Januar. Er profitierte damals nicht zuletzt von der Schwäche der Oppositionsparteien, die weder personell noch programmatisch überzeugten. Neuere Meinungsumfragen gibt es nicht. Inzwischen bekommen die Bürger aber von Tag zu Tag die Lasten des Sparprogramms stärker zu spüren. Und auch in Tsipras’ Regierungspartei, dem Linksbündnis Syriza, beginnt sich Widerspruch zu regen.