Weiter wie bisher

Wahlplakat von Henriette Reker
Erstveröffentlicht: 
20.10.2015

Attentatsopfer Reker gewinnt Kölner OB-Wahl. Erst Monate nach Wehrsportübungen der Neofaschistin Melanie Dittmer werden Ermittlungen aufgenommen - Auch Tage nach dem Messerangriff des Neofaschisten Frank Steffen auf die parteilose Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker, der sich am Sonnabend ereignet hatte, tobt in der Öffentlichkeit die Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen und über eine mögliche Verantwortung von rassistischen Netzwerken und Parteien wie Pegida und AfD an dem besagten Verbrechen.

 

Ausgerechnet Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der sich in der jüngsten Vergangenheit selbst an der miesen und vor allem nahezu faktenfreien Stimmungsmache gegen Flüchtlinge beteiligt hatte, betonte am Sonntag abend in der ARD mit Blick auf Pegida, dass es »inzwischen« völlig eindeutig sei, dass »diejenigen, die das organisieren«, »harte Rechtsextremisten« seien. Dabei waren es vor allem sächsische Landtagsabgeordnete seiner Partei und andere CDU-Politiker, die sich – neben SPD-Chef Sigmar Gabriel – teils mehrfach mit dem braunen Bodensatz zu Gesprächen getroffen hatten.

Unterdessen brachte sich auch der saarländische Linke-Fraktionschef Oskar Lafontaine in die laufende Debatte ein. Er verwies auf seiner Facebook-Seite darauf, dass 258 Menschen »durch die Gewalt der Neonazis von Januar bis August verletzt worden« seien. Verantwortlich für diese Gewalttaten seien auch diejenigen, die mit ihren Worten Hass sähen. »Gerade weil die Stimmung immer bedrohlicher wird, muss den Brandstiftern der Nährboden entzogen werden«, forderte Lafontaine. Deshalb sei sozialer Friede, der die Voraussetzung dafür sei, dass »Menschen in Not bei uns gut empfangen werden«, so wichtig. Der Linke-Spitzenpolitiker sprach sich daher für die Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes auf 500 Euro, die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns ohne Ausnahmen auf 10 Euro, für mehr Geld für sozialen Wohnungsbau und eine gerechte Besteuerung von Millioneneinkommen, -vermögen und -erbschaften aus. »Der Tisch für die Flüchtlinge muss von den Reichen gedeckt werden«, stellte Lafontaine klar.

Hingegen machte das sogenannte Landesamt für Verfassungsschutz seinem angeschlagenen Ruf erneut alle Ehre. So sei Steffen, ein früherer Anhänger der 1995 verbotenen »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« (FAP), nach Einschätzung des NRW-Verfassungsschutzes »eine Randperson« im rechtsextremen Lager, wie Burkhard Freier, der Chef der Spitzelbehörde, am Montag im WDR-Hörfunk einschätzte. Antifagruppen hatten hingegen bereits am Tag des Attentats auf seine Aktivitäten in der Naziszene hingewiesen und dementsprechendes Material veröffentlicht (jW berichtete).

Es ist davon auszugehen, dass die Neofaschisten wie bisher weitermachen können. Während das Düsseldorfer Polizeipräsidium unter dem Präsidenten Norbert Wesseler, der vorher der Behörde in der Neonazihochburg Dortmund vorstand, die regelmäßig stattfindenden Aufmärsche des rassistischen Zusammenschlusses »Düsseldorf gegen die Islamisierung des Abendlandes« (»Dügida«) nicht einmal – wie bei derlei Aufmärschen üblich – an das NRW-Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste meldete und diese somit nicht in die offiziellen Statistiken über rechte Aktivitäten eingespeist wurden (siehe jW vom 24.9.2015). Auch konnte die Neonaziaktivistin Melanie Dittmer, die maßgeblich an der Organisation von »Dügida« beteiligt ist, ungestört an Wehrsportübungen und Waffentrainings teilnehmen. Bildmaterial, welches dieser Zeitung vorliegt, belegt, dass dabei auch der Einsatz von Stichwaffen, darunter auch gezielte Stiche in den Hals, trainiert worden waren, wie sie beim Messerangriff des Neonazis Frank Steffen auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Reker Realität geworden waren. Mittlerweile prüfen die Behörden das Material, wenngleich reichlich spät. Schließlich war es bereits Anfang Juni auf der linken Internetplattform Indymedia hochgeladen worden, die von Polizei und Inlandsgeheimdiensten regelmäßig ausgewertet wird.

Die infolge der feigen Messerattacke durch einen Neofaschisten schwerverletzte Henriette Reker (parteilos) liegt noch immer auf der Intensivstation, hat jedoch ärztlichen Prognosen zufolge gute Chancen, wieder komplett zu genesen. Sie hatte am Sonntag die Wahl in der Domstadt mit 52,7 Prozent der Stimmen für sich entscheiden können. Der SPD-Politiker und Mitbewerber um das Amt des Oberbürgermeisters Jochen Ott kam auf knapp 32 Prozent. Auf 7,2 Prozent kam der Kriminologe Mark Benecke (Die Partei). Bezüglich der Wahlbeteiligung hatte das Attentat auf Reker entgegen vieler Prognosen keinerlei Auswirkungen. Nur 40,28 Prozent gaben ihre Stimme ab, was durchaus Zweifel an der demokratischen Legitimität der Wahlentscheidung aufkommen lassen kann. Schließlich hatten sich 2009 bei der vergangenen Oberbürgermeisterwahl in Köln immerhin noch 49 Prozent der Kölner an dem Urnengang beteiligt.