Von Friedrich Schorlemmer* - Denn jeder Mensch ist ein Ausländer. Fast überall. Die ganze Welt ist durch diverse Konflikte in Aufruhr. Die Vereinten Nationen wirken wie gelähmt. Brandherde überall auf der Erde - ebenso Flüchtlingsströme, größer als 1945. Deutschland wird von vielen, zu vielen als rettende Insel verstanden. Keiner soll keinem den Vorwurf machen, er oder sie hätten sich nicht rechtzeitig darauf vorbereitet. War das nicht absehbar? Jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.
Da kommen nun Menschen zu uns und keine Asylanten: schwer belastete Mütter, Väter, Kinder, junge Männer, Minderjährige ohne Familie, die in Deutschland hoffen, ohne Angst und mit einem Dach über dem Kopf, mit Essen und Trinken leben zu können und hier nichts weniger suchen als eine neue Heimat. Viele werden gern lernen und arbeiten wollen. Auf Lehrer/innen und Therapeuten, auf die Jobcenter und die Dolmetscher, die Psychologen und die Verwaltungsangestellten, auf den Gesetzgeber und die Ordnungskräfte kommen Aufgaben zu, die einer längerfristigen großen Anstrengung bedürfen. Hinzu kommen mögliche - ja wahrscheinliche - innenpolitische Verwerfungen. Alle auf Dauer hier Lebenden müssen möglichst bald und intensiv Deutsch lernen. Es gibt nun für uns alle Aufgaben, große Aufgaben, aber nicht "Probleme". (Von Stalin wird der schreckliche Satz überliefert: "Ein Mensch - ein Problem, kein Mensch - kein Problem." Abgewandelt: Ein Asylant - ein Problem, kein Asylant - kein Problem!)
Alte nationale bis nationalistische Stimmungen sind überall in Europa
reaktivierbar und reaktiviert. Solidarität darf nicht aufgekündigt
werden. Von niemandem. Da wir nicht alle aufnehmen können, müssen auch
die, die mit einer Wohlstandserwartung zu uns gekommen sind, aber in ihr
Heimatland zurückgeführt werden, begleitet statt abgeschoben werden.
Wenn wir wollen, dass wir nicht überfordert werden, wäre es sinnvoller,
den Menschen in den riesigen Zeltlagern im Libanon, in Jordanien und
auch in der Türkei, zu helfen. Und alle die, die nun nach Deutschland
kommen und große Hoffnungen an uns knüpfen, müssen Willkommenssymbole
erleben, die noch nicht gleichzusetzen sind mit einer längerfristigen,
unsere Rechtsordnung umfassenden Eingliederungsanstrengung. Es ist noch
keine Willkommenskultur, sondern ein spontanes, mitempfindendes Symbol,
dass wir uns offen und mitfühlsam machen, konkret helfen statt abweisend
zu sein.
Wir sind erst einmal alle völlig unvorbereitet, was Unterkünfte anlangt:
logistisch. Was Versorgung mit spezifischen Speisen anlangt:
alltagspraktisch. Was Eingliederung betrifft: kulturell,
sozialpsychologisch und sprachlich.
Es wäre völlig unangemessen, der Kanzlerin einen Vorwurf zu machen,
dass sie statt Abweisung der uns zuströmenden, insbesondere aus
Bürgerkriegen kommenden Menschen, eine Einladung durch einen zeitweisen
Verzicht auf die Anwendung unserer Regeln ausgesprochen hat. Die spontan
in einer dramatischen Notsituation von Angela Merkel ausgesprochene
Einladung an syrische Flüchtlinge - in einer geltende Regeln
überspringenden Öffnung - wurde ihr von einigen zum Vorwurf gemacht. Sie
reagierte menschlich beeindruckend: "Wenn wir anfangen, uns zu
entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht
zeigen, ist das nicht mein Land." Und wie gut hat sie erfasst, was die
Tausenden, die spontan sich zusammenfindenden Helfer anlangt: "Ich danke
allen, die den Hass ausgehalten haben", die sich also selber nicht dem
Hass ausgeliefert haben, indem sie eben nicht gegen-hassen und sich
nicht von ihrem mitfühlsamen Engagement zurückziehen.
Wir können nicht alle aufnehmen und wir sollten uns nicht übernehmen,
aber uns der Herausforderung stellen und konfliktminimierend tätig
werden. Immer auch müssen Politiker die Zumutbarkeit im Auge behalten,
statt nur hochmoralisch oder herzlos-sachlich zu reagieren. Denn das
kann sprunghaft nach rechts ausschlagen bzw. Linksengagierte empören.
Manchmal löst man ein Problem und schafft damit ein Problem, ein
größeres oder kleineres. Die uns in Mengen zuströmenden Asylbewerber
sollten vornehmlich in Gegenden untergebracht werden, die
vergleichsweise wirtschaftlich gut gestellt sind. Jedenfalls nicht in
Gegenden, in denen die Hoffnung auf Besserung ohnehin gestorben ist und
die sich als Verlierer, Übersehene, Abgehängte empfinden. Unsicherheit
darüber, was werden soll, geht um und geht über in diffuse Ängste. Und
Angst ist fremdenfeindlich, gar aggressiv aufladbar. Wir gefährden
unsere beeindruckende Aufnahmebereitschaft, wenn wir uns überfordern.
Es gibt eine schwer greifbare Angst im Lande, verbunden mit kräftigen
Vorausurteilen. Politik steht immer auch vor der Aufgabe, nicht ein
Problem zu lösen, ohne im Blick zu behalten, welches andere Problem
sodann auftaucht und wie man dem wirksam begegnen kann.
Asylpolitik ist auch und nicht zuletzt als ein entscheidender Teil von
Außenpolitik zu begreifen und zu betreiben. Also alles zu tun, dass
wieder Hoffnung und Lebensmöglichkeit in den Herkunftsländern erwacht.
Es ist ein Dilemma: Wer alle Schleusen aufmacht, gefährdet die
Integration (die objektive und die psychologische). Wer aber Grenzen
hochzieht, gefährdet die Grundlagen unseres auf demokratischen Werten
beruhenden Gemeinwesens.
Wir gefährden unsere beeindruckende Aufnahmebereitschaft, wenn wir uns
überfordern und die Probleme von denen ausgenutzt werden, die ohnehin
dagegen sind, dass wir so viele Kriegsflüchtlinge und andere Asylanten
in das Land hineinlassen, sie aufnehmen, menschlich behandeln und
angemessen zu versorgen trachten. Es hat fatale Wirkungen, wenn der
Bundespräsident vom "hellen Deutschland" und dem "Dunkeldeutschland"
spricht, denn 1994 war mit Dunkeldeutschland das Gebiet der ehemaligen
DDR und deren Einwohner gemeint und wurde zu einem der "Unwörter" des
Jahres erkoren ("Buschzulage" gewann 1994 das Ranking). Das helle und
das dunkle Deutschland wohnen Wand an Wand. Es geht durch Freundes-,
Kollegen- und Familienkreise. Überall.
Doch gibt es im Osten eine diffuse Angst und vorauseilende Vorurteile
und Ängste. Insbesondere diejenigen, die sich in diesen 25 Jahren als
Verlierer, als zu kurz Gekommene empfunden haben oder in Gegenden leben,
in denen es keine erkennbare Hoffnung auf Verbesserung der
Lebensumstände bzw. auf eine ordentliche Arbeit gibt. Wenn dorthin, wo
viele weggezogen sind, in die leerstehenden Gebäude Flüchtlinge ziehen
sollten, dann schlägt das leicht zum Rechtspopulismus bei bisher ganz
normalen Bürgern aus. Da werden die Gerüchte geschürt, die Zuwanderer
würden "uns" etwas wegnehmen. Unsere Behörden arbeiten meist noch immer
wie immer. Krisenstäbe fehlen. Neue Arbeitsstellen sind zu schaffen -
mit Leuten, die sich nicht "so anstellen" wie die geläufigen Bürokraten.
Europa ist ein solidarisches Versprechen, eine Ausgleichsgesellschaft
zu schaffen. Ohne Solidarität mit Bürgerkriegsflüchtlingen wird das Feld
den nationalen bis nationalistischen Alleingängen geöffnet. Die EU
würde als Wertegemeinschaft perdú gehen. Sehr bald. Sehr schnell. Und
die Schleusen für nationalistische Gefühle sind alsbald wieder
aufgemacht. Politik muss immer im Moment, in einer konkreten Situation,
in einer vor uns liegenden Situation handeln. Zugleich muss sie vom Ende
her denken: Was löst welche Gegenreaktionen aus, wo wir mit bestem
Willen etwas entscheiden wollten, was "das Volk" nicht mittragen will.
Werte stehen in Konfliktsituationen schnell gegen Mehrheiten. Sollen wir
den Werten Raum geben oder Stimmungen Raum lassen? Im einen Fall wird
das Mehrheitsprinzip aufgegeben, im anderen Fall das Grundprinzip: die
Geltung der universellen Menschenrechte für alle.
Abgehängte fürchten weiter, gar noch mehr abgehängt zu werden. Da kam
es zum erschreckenden Missbrauch des revolutionären, befreienden Rufes
des aufmüpfigen Ost-Volkes von 1989: "Wir sind das Volk". Dies wird nun
in Marzahn und anderswo syrischen Flüchtlingsfamilien entgegengeschrien:
"Wir sind das Volk" was heißt: ihr gehört hier nicht her und wir werden
euch nicht aufnehmen, denn wir, die schon immer hier wohnen, sind "das
Volk". Dahinter steht der Imperativ: Ihr seid fremd. Ihr seid nicht
willkommen. Haut ab! Oder wir schlagen zu! Sogar Bürgerversammlungen in
Kirchen werden fremdenfeindlich aufgeladen, wie jüngst in Halle. Das
Volk kann im Handumdrehen zum blöden Volk mutieren.
Asylsuchende aber werden dann eher zu Wirtschaftsflüchtlingen, wenn sie
das reichste Land als ihren Fluchtort verstehen und darauf bestehen,
dorthin zu kommen, ohne zu fragen und ohne zu wissen, was das bei uns in
Deutschland für mental-emotional-politische-aggressive Folgen hat, die
zugleich Rechtspopulisten Raum geben.
Wir wissen noch keine Lösung. Alle wurden überrascht. Und alle müssen
sich nun den Problemen stellen, statt "der Politik" und "den Politikern"
selbstgerechte Vorwürfe zu machen. Nur im partnerschaftlichen
Zusammenwirken zwischen staatlichen Institutionen und bürgerschaftlichen
Engagement werden wir die großen Aufgaben einer schrittweisen
Integration meistern können.
* Unser Autor Friedrich Schorlemmer (71) ist einer der bekanntesten evangelischen Theologen. Der Bürgerrechtler aus der Lutherstadt Wittenberg war in der DDR aktiv in der Opposition tätig.