Vor 36 Jahren in der DDR: Die Hetzjagd von Merseburg

Erstveröffentlicht: 
08.09.2015

MDR-Magazin: Fremdenfeindlichkeit hat im Osten eine lange Tradition / Historiker recherchiert rund 700 Vorfälle

 

Von Roland herold


Leipzig. Eine der hartnäckigsten Legenden aus DDR-Zeiten lautet, dass es im Arbeiter- und Bauernstaat keine Fremdenfeindlichkeit gegeben habe. Der MDR hat einen Fall nun neu aufgerollt, der in beklemmender Weise an die jüngsten Bilder von Heidenau oder auch Ebeleben erinnert. Und ganz offenbar war er kein Einzelfall.


Am 12. August 1979 kommt es in der Diskothek "Saaletal" im sachsen-anhaltischen Merseburg (heute Saalekreis) zu einer Kneipenschlägerei zwischen Kubanern und Einheimischen. Worum es damals geht, lässt sich heute nicht mehr sagen. Danach aber beginnt eine regelrechte Hetzjagd auf die Kubaner. Ein Anwohner beobachtet, wie auf einer rund 100 Meter entfernten Brücke weiter geprügelt wird, nun auch mit Knüppeln, Metallstangen oder ähnlichem. In Todesangst springen die Kubaner in die Saale. Doch es ist noch nicht vorbei. Die Einheimischen sammeln Ziegelsteine auf und werfen sie den Flüchtenden hinterher. Drei Tage später wird die Leiche von Delfin Guerra (18) aus der Saale gezogen, am Tag darauf die von Andres Garcia (21). Die sichere Todesursache lässt sich nicht mehr ermitteln, weil die Leichen zu lange im sommerlich warmen Wasser gelegen haben.


Kripo und Staatsanwaltschaft nehmen die Ermittlungen gegen fünf Verdächtige auf. Eine Zeugin gibt an, mit einer Weinflasche auf einen Kubaner geworfen zu haben, der "zeitweilig unter Wasser geriet". Doch die Akten werden rasch geschlossen. Partei- und Staatschef Erich Honecker, Innenminister Friedrich Dickel und Stasi-Chef Erich Mielke ziehen die Notbremse. Die Beziehungen zum Bruderstaat Kuba sollen nicht überschattet werden.


Kein Einzelfall, wie der Berliner Historiker Harry Waibel in Stasi-Akten recherchiert und im April im Gespräch mit der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht hat. Geschändete jüdische Friedhöfe, rassistische Hetze, brutale Gewalt gegen Ausländer. Bisher rund 700 belegbare Vorfälle, "in denen es mindestens zwölf Tote gegeben hat, die Verletzten sind nicht gezählt". Er schätzt, dass es Tausende gewesen sein müssen. Und in aller Regel erfolgten die Übergriffe spontan.


Einer der Hauptgründe war offenbar, dass Kubaner, Vietnamesen, Mosambikaner und Angolaner isoliert in Wohnheimen lebten. Unkontrollierte Begegnungen mit Einheimischen waren nicht erwünscht und meist sogar untersagt. Der einstige DDR-Kriminalist Bernd Wagner erinnert sich, dass es verpönt war, sich mit Ausländern sehen zu lassen oder gar einen Kaffee zu trinken. An dem Klischee "Ausländer sind kriminell" habe sich aber nichts geändert. Ob die Kubaner 1979 ermordet wurden, "müsste man heute noch feststellen", sagt Waibel. "Da Mord nicht verjährt, wäre es sicher nötig, zu bestimmen, kann man da juristisch heute noch vorgehen oder nicht."


Das Magazin "Fakt" berichtet heute ab 21.45 Uhr in der ARD von dem Vorfall.