Die Behörden schaffen es immer seltener, abgelehnte Asylbewerber tatsächlich schnell abzuschieben - das will die Union nun ändern
Von Jörg Köpke
Attila K. muss nicht raten. Als es am frühen Morgen klingelt und er die Beamten an seiner Tür sieht, weiß der junge Kosovo-Albaner sofort, worum es geht. Der Asylantrag, den er für sich, seine Frau und die drei kleinen Kinder gestellt hatte, war abgelehnt worden. Jetzt soll er zurück. Die Männer sind gekommen, um ihn und seine Familie zu holen.
Doch schon nach wenigen Minuten ist klar, dass die Mitarbeiter von
Ausländerbehörde und Landespolizei Sachsen-Anhalt unverrichteter Dinge
wieder abziehen müssen. Eine Abschiebung der Familie ist vorerst
unmöglich. Der Grund: Einer der fünf Pässe fehlt. Familien
auseinanderzureißen - das gestattet die deutsche Gesetzgebung nicht.
Attila K. und seine Familie sind alles andere als ein Einzelfall. Die
dramatischen Bilder syrischer Flüchtlingsströme und der großen Welle der
Hilfe in Deutschland überdecken ein Problem, das deutschen
Innenpolitikern zunehmend Sorgen bereitet: die Abschiebung derer, die in
Deutschland nicht bleiben dürfen. Abschiebungen, im Amtsdeutsch
"geordnete Rückführung" genannt, scheitern immer häufiger an fehlenden
Identitätsnachweisen. Das belegen vertrauliche Dokumente und Zahlen, die
dieser Zeitung vorliegen.
Nach internen Angaben des Ausländerzentralregisters, das im Auftrag des
Bundesverwaltungsamtes sowohl die Bundesregierung als auch öffentliche
Behörden mit aktuellen Daten versorgt, lebten in Deutschland Ende Juli
insgesamt 185346 Ausreisepflichtige. Ein Großteil von ihnen, 134230,
habe allerdings Gründe genannt, die eine Abschiebung vorläufig unmöglich
machten und deshalb zu einer Duldung führten. Fachleute der Länder
kommen in einem vertraulichen Bericht zu dem Ergebnis, dass 73 Prozent
aller Flüchtlinge behaupten, keinerlei Identitätsdokumente zu besitzen.
Die Betroffenen kennen die deutsche Rechtslage offenbar gut - und wissen
um das Problem, einen Flüchtling ohne Ausweis in die alte Heimat zu
schicken. Oft werden die Dokumente unmittelbar nach der Ankunft in
Deutschland einfach weggeworfen, nachdem ihr Besitzer das Passbild in
viele kleine Stücke gerissen hat. Böschungen an Bahnlinien und
Autobahnen kurz hinter der Grenze sind voll von Pässen vor allem aus den
westlichen Balkanstaaten, in denen die Fotos fehlen. Die Dokumente
später zu vergraben oder zu verstecken ist eine andere Methode, der
Abschiebung zu entgehen. Vor allem Ausweise aus Mazedonien, Kosovo oder
Albanien gehen auf diese Weise "verloren" - für Menschen aus den
West-Balkanstaaten ist es nahezu unmöglich, in Deutschland als
Asylbewerber anerkannt zu werden.
Die deutschen Innenpolitiker und Behördenchefs kennen das Problem - und
sind bislang machtlos. Manchen macht das zunehmend wütend. In der
vergangenen Woche zum Beispiel redete sich Lorenz Caffier bei einer
internen Besprechung in Rage. Die Telefonkonferenz der
Sicherheitsexperten und untergeordneten Dienststellen war erst wenige
Minuten alt, als der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern das Wort
ergriff. Es müsse sich etwas ändern, zürnte der CDU-Politiker und
Sprecher der Unionsinnenminister laut Zuhörern, so könne und dürfe es
nicht weitergehen. Sein Vorschlag rührte an einen heiklen Punkt: Ab
sofort, forderte Caffier, sollten die Länder abgelehnte Asylbewerber
auch ohne Pässe direkt und unverzüglich abschieben.
Verschwundene Papiere sind jedoch nicht das einzige Hindernis für eine
rasche Abschiebung - es fehlt schlicht auch an Kapazitäten. Ein nur für
den Dienstgebrauch bestimmtes "Merkblatt für Charterflüge zur
Rückführung abgelehnter Asylbewerber nach Albanien" der deutschen
Botschaft in Tirana vom 10. August unterstreicht dies eindrucksvoll.
Danach steht für die zwangsweise Rückführung von Ausreisepflichtigen
zurzeit nur ein einziger Flug pro Tag mit einer Kapazität von 70 Plätzen
in Richtung Albanien zur Verfügung. Die Beamten klagen über "zu wenig
Personal und unzureichende Logistik".
Gestern Abend wollten sich die Länderinnenminister von CDU und CSU mit
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) in Berlin treffen, um über
Lösungen zu beraten. Aus Teilnehmerkreisen hieß es zuvor, es werde
"keine Denkverbote" geben.
Die beiden ostdeutschen Bundesländer Sachsen-Anhalt und
Mecklenburg-Vorpommern sind bereits im August dazu übergegangen,
einstmals aus humanitären Gründen verhängte nächtliche Abschiebestopps
aufzuheben. Tagsüber, so die Erfahrung, sind die Ausreisepflichtigen zu
oft einfach nicht zu Hause.
Doch den Innenpolitikern reicht das nicht. Wegen der Schwierigkeiten bei
den Abschiebungen - und der hohen Kosten - wollen sie am liebsten nun
auch die Einreise erschweren. Geplant ist unter anderem die
Wiedereinführung der Visumspflicht für die Balkanstaaten. Sogar eine
Rückkehrprämie von bis zu 5000 Euro pro Person ist im Gespräch. Die
Amtskollegen aus den SPD-geführten Ländern sollen zumindest mit einigen
der Vorschläge einverstanden sein.
Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl hält die geplanten
Verschärfungen für unangemessen und übertrieben. Die
Arbeitsgemeinschaft, die sich bundesweit für die Belange von
Flüchtlingen einsetzt, betont, dass vor allem der Zustrom aus dem Kosovo
in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen ist. Während im
Februar noch 16616 Personen und damit 42,7 Prozent aller Zugänge aus dem
Kosovo stammten, sei die Quote auf inzwischen etwa 10 Prozent gesunken.
Eine ähnliche Entwicklung zeichne sich für Bosnien-Herzegowina,
Montenegro und Serbien ab.
Lorenz Caffier ficht das nicht an. Im Gegenteil: Er rief gestern dazu
auf, "das derzeitige Ausstellen von Passersatzpapieren erheblich zu
beschleunigen, also binnen 24 Stunden". Man brauche eine
bundeseinheitliche Linie. Die Bürokratie müsse sich trauen, "alles
Bisherige über Bord zu werfen".
Indirekte Unterstützung erhielt er gestern von Manfred Schmidt. Der Chef
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sprach sich dafür aus,
das Abschiebeverfahren strenger zu handhaben. Überstellungen sollten
nach dem ersten Scheitern nicht mehr angekündigt werden - um zu
verhindern, dass sich abgelehnte Asylbewerber der Abschiebung entziehen.
Sowohl Caffier als auch Schmidt zielen damit auf Fälle wie den des
Kosovo-Albaners Attila K. Wie sich nach dem ersten gescheiterten Versuch
herausstellte, hatte der Vater den fehlenden Pass im Garten vergraben.
Inzwischen ist die Familie wieder im Kosovo.
"Sichere Staaten": Verfahren kaum schneller
Ein großer Teil der Asylbewerber, die nach Deutschland kommmen, hat so gut wie keine Chance auf Anerkennung. Sollen ihre Herkunftsländer deshalb alle zu "sicheren Herkunftsstaaten" erklärt werden?
Für manchen Politiker ist dies die Lösung - doch das Etikett "sicherer
Herkunftsstaat" allein ist kein Wunder- mittel, das Asylverfahren
beschleunigt. Auch die Warnungen vor einem angeblich ausgehöhlten
Asylrecht sind übertrieben: Asylbewerber werden dadurch keineswegs
völlig schutz- und rechtlos gestellt.
Seit November 2014 gelten Serbien, Bosnien und Mazedonien als "sichere
Herkunftsstaaten". Aktuell wird diskutiert, ob drei weitere Staaten -
Albanien, der Kosovo und Montenegro - ebenfalls das Etikett erhalten
sollen.
Doch wer aus einem "sicheren Herkunftsstaat" kommt, erhält im Kern das
gleiche Asylverfahren wie andere Antragssteller auch. Das heißt: Es gibt
eine mündliche Anhörung, es können Argumente vorgebracht werden. Es
besteht zwar die Vermutung, dass der Antragsteller nicht schutzbedürftig
ist - aber die Vermutung kann widerlegt werden. Aus Mazedonien wurden
im Juli immerhin sechs Personen als Flüchtling anerkannt, aus Serbien
erhielten 17 Personen individuellen Abschiebeschutz. Das waren jeweils
0,2 Prozent der Antragsteller. Ähnlich niedrig waren die Schutzquoten
auch vor Einstufung als "sicherer Herkunftsstaat".
Die behauptete Beschleunigung des Asylverfahrens ist minimal. Zwar gilt
ein abgelehnter Antrag aus einem "sicheren Herkunftsstaat" automatisch
als "offensichtlich unbegründet" - was den gerichtlichen Rechtsschutz
auf ein Minimum reduziert. Doch die Einstufung beschleunigt das
Asylverfahren laut Innenministerum um ganze zehn Minuten - weil nicht
mehr begründet werden muss, warum ein Antrag "offensichtlich
unbegründet" ist.
Die Schaffung "sicherer Herkunftsstaaten" hat noch einen anderen Zweck:
Sie soll Menschen von einer Flucht nach Deutschland abschrecken. Doch
auch das scheint nicht zu funktionieren: Die Zahl der Asylanträge aus
Serbien und Mazedonien stieg gegenüber dem ersten halben Jahr 2014 sogar
deutlich an.