Deutschlands Karte des Schreckens

Erstveröffentlicht: 
30.07.2015

Brandanschläge, tätliche Angriffe, Anti-Asyl-Demos: In Deutschland hat die Gewalt gegen Flüchtlinge stark zugenommen. Die Karte zeigt, was wo geschah.

 

«Es ist nicht nur tragisch, sondern auch beschämend, wenn Menschen, die bei uns Schutz suchen, um ihr Leben fürchten müssen.» Dies sagt der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in einem heute veröffentlichten Interview.

 

Die deutschen Medien sind derzeit voll mit Berichten zum Thema Flüchtlinge. Im ersten Halbjahr 2015 sind in Deutschland doppelt so viele Asylanträge gestellt worden wie in der gleichen Periode im Vorjahr. Insgesamt werden im laufenden Jahr bis zu 400'000 Asylbewerber erwartet. Bundesländer und Gemeinden, die für deren Betreuung zuständig sind, haben Alarm geschlagen. Die Unterkünfte sind voll. Längst wird auf temporäre Lösungen wie Zeltstädte ausgewichen.

 

Mit der Anzahl Flüchtlinge nimmt auch die Zahl der flüchtlingsfeindlichen Vorfälle zu. Die beiden Organisationen Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl führen für Deutschland Buch. Bis Ende Juli haben sie über 200 flüchtlingsfeindliche Ereignisse registriert – und damit etwa so viel wie im gesamten vergangenen Jahr. Die Datengrundlage der Chronik sind öffentlich zugängliche Berichte in Zeitungsartikeln. Ergänzend werden Fälle aufgenommen, die von lokalen Initiativen sowie von Register- und Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt gemeldet wurden. Die folgende Grafik basiert auf diesen Daten. Sie zeigt die Anschläge im Zeitraffer zwischen dem 1. Januar und dem 28. Juli 2015:

 

https://wnstnsmth.cartodb.com/viz/49b9013c-3689-11e5-ba3e-0e9d821ea90d/p...

 

Die Bilanz der ersten sieben Monate des Jahres ist erschreckend: Gezählt wurden bislang 110 Angriffe auf Unterkünfte. Davon waren 18 Brandanschläge. Hinzu kommen 33 tätliche Angriffe. Insgesamt sind 58 Flüchtlinge verletzt worden. Hoch ist auch die Anzahl flüchtlingsfeindlicher Kundgebungen. Deren Zahl ist 2015 inzwischen bei 88 angelangt.

 

Im Osten, in den kleinen Städten

 

Eine Kleinstadt im Bundesland Sachsen ist zum Symbol für die Ablehnung von Flüchtlingen in der deutschen Bevölkerung geworden. In Freital wurden in einem ehemaligen Hotel etwa 380 Flüchtlinge einquartiert. Seither finden wöchentlich Demonstrationen statt. Eine Initiative mit dem Namen «Freital steht auf. Nein zum Hotelheim» steckt dahinter. Mindestens fünfmal wurde die Flüchtlingsunterkunft in den letzten Monaten attackiert. Mindestens zweimal kam es in Freital zu tätlichen Übergriffen auf Flüchtlinge.

 

Es sind auffallend oft kleinere Orte wie Freital, in denen flüchtlingsfeindliche Zwischenfälle registriert werden. Zudem ergeben die Daten aus dem Jahr 2015 eine Häufung der Vorfälle im Osten Deutschlands – insbesondere im Umland der Städte Dresden und Leipzig.

 

https://wnstnsmth.cartodb.com/viz/ab79b6d8-3697-11e5-9449-0e0c41326911/p...

 

Es sind nicht die Regionen, die am meisten Flüchtlinge aufnehmen müssen, wie folgende Karte mit dem Verteilschlüssel des Bundesamts für Migration zeigt:

 

http://files.newsnetz.ch/upload//5/7/57098.jpg

 

Insgesamt kann man bei der Zunahme der flüchtlingsfeindlichen Vorfälle aber von einem gesamtdeutschen Phänomen sprechen. Auch Bundesländer, in denen seit Jahrzehnten viel mehr Ausländer wohnen als im Osten Deutschlands, sind stark betroffen. Auf der Vorfallkarte von 2015 sticht insbesondere Nordrhein-Westfalen hervor.

 

Sonderlager zur Abschreckung gefordert

 

Die vielen Asylanträge und die rassistisch motivierte Gewalt sind in Deutschland zum Politikum des Sommers geworden. Aus allen politischen Lagern werden Vorschläge zur Bewältigung der «Flüchtlingskrise» eingebracht. Hauptthema ist die grosse Zahl Flüchtlinge, die nicht wegen Krieg oder politischer Verfolgung fliehen, sondern aus wirtschaftlicher Not. Zwar ist das derzeit wichtigste Herkunftsland für Flüchtlinge das bürgerkriegsgeplagte Syrien (etwa 20 Prozent). Rund 40 Prozent der Asylanträge reichten aber Menschen aus dem Balkan ein. Sie haben auch in Deutschland nur minimale Chancen auf eine Anerkennung als Flüchtling. Auch die Anzahl Wirtschaftsflüchtlinge aus afrikanischen Staaten hat stark zugenommen.

 

Vertreter von CDU/CSU wie der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer haben zur Abschreckung von Wirtschaftsflüchtlingen Sonderlager in Grenznähe vorgeschlagen. In beschleunigten Verfahren sollen sie von dort möglichst rasch wieder nach Hause geschickt werden. Die Bundespolizei hat ein Video produzieren lassen, das auf dem Balkan potenzielle Flüchtlinge abschrecken soll.

 

Die Diskussion in Deutschland erinnert stark an diejenige in der Schweiz. Hierzulande wird seit gut zwei Jahren für Flüchtlinge vom Balkan das sogenannte 48-Stunden-Verfahren angewandt. Auch das Schweizer Staatssekretariat für Migration hat schon Videos zur Abschreckung von potenziellen Flüchtlingen produzieren lassen.

 

Die Entwicklung der Asylzahlen in der Schweiz und Deutschland war über viele Jahre vergleichbar. In den letzten drei Jahren war der Anstieg in Deutschland aber viel stärker. Pro 1000 Einwohner wurden in Deutschland im letzten Jahr 2,5 Asylbewerber registriert, in der Schweiz 2,9. 2015 dürfte die deutsche Quote diejenige der Schweiz übertreffen.

 

In Deutschland wird allerdings nicht ausschliesslich eine Debatte über Abschreckungsmöglichkeiten geführt. Nicht nur linke Parteien, sondern auch Wirtschaftsvertreter fordern eine völlig neue Einwanderungspolitik. Deutschland hat ein grosses demografisches Problem, der Fachkräftemangel wird sich in Zukunft noch verschärfen. Deshalb soll es, so die Forderung, künftig einfacher werden, aus Nicht-EU-Staaten als Arbeitsmigrant nach Deutschland zu kommen. Das würde für viele Wirtschaftsflüchtlinge den Asylantrag überflüssig machen.

 

Hinweis: Lesen Sie in der morgigen Ausgabe des «Tages-Anzeigers» die grosse Reportage aus Freital, der Kleinstadt, die zum Brennpunkt der deutschen Flüchtlingsdebatte geworden ist.