Flüchtlingsheim in Leipzig: "In Syrien stirbst du schnell, hier stirbst du langsam"

Erstveröffentlicht: 
11.04.2015

Stacheldraht, marode Rohre, durchgelegene Betten: Die Flüchtlingsunterkunft "Torgauer" ist in einem desolaten Zustand. Doch statt sie zu schließen, wird die Unterkunft in einem Plattenbau sogar noch ausgebaut.

 

Seine Küche betritt Ashraf Jabal nur mit Schuhen - wegen der Kakerlaken, die hinter dem Herd hervorwuseln. Der 21-Jährige hatte in Syrien begonnen, Pharmazie zu studieren. Jetzt sitzt er in einem kargen Raum in der Torgauer Straße 290, Leipzigs größter Flüchtlingsunterkunft. "Die Torgauer" heißt das berüchtigte Heim unter Leipzigern.

 

Im Frühsommer 2013 hatte hier ein Libanese mehrere Wochen lang tot in seinem Zimmer gelegen - unbemerkt von der Heimleitung. Rund um das Gebäude verläuft ein zwei Meter hoher Zaun, teilweise Stacheldraht. Dahinter zwei fünfstöckige DDR-Plattenbauten, in denen 295 Menschen leben - mehr als ein Zehntel aller derzeit in Leipzig lebenden Asylsuchenden.

 

Weit und breit gibt es sonst nur Gewerbe. Wer hier aus der Straßenbahn steigt, geht entweder zum Arbeiten ins Versandhaus Amazon oder zum Leben ins Flüchtlingsheim. Dabei sollte es die Unterkunft eigentlich gar nicht mehr geben.

 

Im Jahr 2012 beschloss der Stadtrat: Die Torgauer muss weg, so schnell wie möglich. Die Menschen sollten in kleine Heime und Mietwohnungen umziehen. Denn die ehemalige Unterkunft für sowjetische Soldaten ist marode, die Möbel sind schrottreif. Beim sogenannten Heim-TÜV 2011 versah der sächsische Ausländerbeauftragte die Unterkunft mit einer "roten Ampel". "Kaum zumutbar" nannte Oberbürgermeister Burkhard Jung die Zustände 2013.

 

Eineinhalb Jahre später ist die Torgauer immer noch da - und bleibt auch. Der Stadtrat hat mit großer Mehrheit beschlossen, die Unterkunft für rund 5,7 Millionen Euro zu sanieren und zu erweitern. Ein Kernpunkt des dezentralen Konzepts, das auch außerhalb Leipzigs Beachtung fand, wird damit ins Gegenteil verkehrt. Mit 520 Plätzen wird die Torgauer jetzt zur größten kommunalen Flüchtlingsunterkunft Sachsens.

 

"Wir wollen aus diesem Gefängnis raus"


"Als wir den Stacheldraht sahen, fühlten wir uns wie im Gefängnis", berichtet Ashraf Jabal vom Moment seiner Ankunft. Er wohnt in Block 11. Die Ausstattung seines Zimmers ist spartanisch: Spinde, ein Tisch und Betten, die so unbequem sind, dass die Syrer ihre Matratzen zum Schlafen lieber auf den Boden legen. "Das ist keine gute Atmosphäre, um Deutsch zu lernen", sagt Jabal.

 

Weil die Unterkunft eigentlich geschlossen werden sollte, wurde kaum renoviert. Die Syrer haben deshalb einen offenen Brief an den Oberbürgermeister verfasst: "Bitte, töten Sie nicht unsere Hoffnungen. Versuchen Sie, Wohnungen für uns innerhalb Leipzigs oder nicht weit davon entfernt zu finden. Wir wollen Deutsch lernen, arbeiten und aus diesem Gefängnis raus." Rathausmitarbeiter hätten sich darauf bei ihnen umgeschaut. Eine Antwort vom OB sei aber nie gekommen.

 

Im Rathaus gibt es für den Ausbau der Massenunterkunft eine einfache Begründung: Die Flüchtlingszahlen hätten sich seit 2011 verzehnfacht. "Dass die Zahlen derart steigen, war 2012 für niemanden absehbar", erklärt Martina Kador-Probst, die Sozialamtsleiterin. 2014 kamen 1232 Geflüchtete in Leipzig an. Das überstieg die vorhandenen Unterbringungskapazitäten; die Stadt brauchte jeden Platz, richtete Notunterkünfte ein und mietete im Dezember kurzfristig Pensionen an. An die Schließung der Torgauer sei längst nicht mehr zu denken, heißt es im Sozialamt.

 

Suche nach Alternativen


Doch die Flüchtlingszahlen nehmen bereits seit 2009 zu. Der Soziologe Philipp Schäfer hält das Argument der Stadt deshalb für vorgeschoben. "Da ist eine Entwicklung verschlafen worden." Spätestens 2013 hätten die Behörden realisieren müssen, dass die jährlichen Flüchtlingszahlen bei mehr als 1000 liegen, kritisiert Juliane Nagel, Stadträtin für die Linke. Und dass eine Stadt wie Leipzig keine kleineren Unterkünfte finde, sei lächerlich, sagen Sprecher des Initiativkreises menschen.würdig (IKMW): "Leipzig hat immer noch einen großen Leerstand."

 

Der Initiativkreis machte sich eigenständig auf die Suche nach Wohnmöglichkeiten. Er fand Haus- und Wohngemeinschaften, die Geflüchtete aufnehmen wollen, zudem Wohnungsgenossenschaften. Letztere monierten, dass die Stadt zu wenig Interesse an ihren Immobilien gezeigt habe. Der Leipziger Sozialbürgermeister Thomas Fabian ist von dieser Kritik irritiert. Nach seiner Kenntnis sei es andersherum: Die Genossenschaften hätten die Sozialamtsleiterin kurzfristig von einem Gesprächstermin ausgeladen.

 

 

Beim Thema Asylunterbringung gibt es in Sachsen offensichtlich Kommunikationsprobleme. So richtet der Freistaat in Leipzig-Dölitz eine Erstaufnahmeeinrichtung ein, ohne sich mit der Stadt abzustimmen. 2014 hatte das Leipziger Liegenschaftsamt das Gebäude verkauft - während das Sozialamt schon Schwierigkeiten hatte, neu ankommende Flüchtlinge überhaupt unterzubringen.

Die Stadt Leipzig hat es nicht geschafft, ihre beschämendste Flüchtlingsunterkunft entweder zu schließen oder rechtzeitig zu erneuern. "Wir hätten die Torgauer früher sanieren müssen", bekennt der Sozialbürgermeister heute.

 

Ashraf Jabal wird nichts mehr von der Sanierung haben. Er zieht in eine eigene Wohnung. "Der Mensch braucht Privatsphäre, um sich neu ordnen zu können", freut er sich. Derweil müssen in der Torgauer auch während der Sanierung Menschen leben. Der Stacheldraht soll nun stückweise abmontiert werden, aber der Zaun bleibt. Dahinter raunt ein Mann den Besuchern zu: "In Syria you die quickly, here you die slowly!"