Abgeschoben

Ein Teil der abgeschobenen Familie Ametovic im serbischen Nis
Erstveröffentlicht: 
28.02.2015

Adrian Hoffmann, Redakteur der Freiburger Stadtredaktion, ist für vier Tage nach Serbien gereist, um sich selbst ein Bild zu machen von der Situation der Familie nach ihrer Abschiebung.


 

Seit ihrer erzwungenen Rückreise aus Freiburg lebt eine junge Mutter mit ihren sechs Kindern im serbischen Niš im Elend – doch ihr größtes Problem ist ihr Mann.

 

Dejan schaut ungläubig, dann strahlt er und rennt auf Dajana Reiser zu. Er umarmt ihre Beine, höher kommt er nicht. Sie lacht, beugt sich vor und streicht ihm übers Gesicht. Ihr letzter Besuch hier ist zwei Wochen her – und Dejan (10), der Älteste von Sadbera Ametovic (29), ist für einen Moment wieder der Junge, der er in Deutschland war. In jenem anderen Leben – bevor ihm ein "Abgeschoben" in den Pass gestempelt wurde.

"Wie geht’s dir?", fragt Dajana. "Gut", schwindelt Dejan höflich. Er führt die Besucherin aus Freiburg, die ihn und seine Familie im vorigen Leben so lange unterstützt hat, über einen schmalen Pfad in sein neues Zuhause – eine Baracke am hintersten Ende einer Roma-Siedlung, wie es sie hier viele gibt. Gelegen am Rande der serbischen Großstadt Niš, hässlich und bitterarm, zweieinhalb Stunden Autofahrt südlich von Belgrad.

Dajana Reiser, 51 Jahre alt und früher einmal selbst nur "geduldet" in Deutschland, betritt die etwa 20 Quadratmeter große Behausung der Familie. Drinnen wartet Sadbera, ein freudestrahlendes Häufchen Elend, fahl und eingefallen, mit ihren fünf anderen Kindern. Der kleine Dejan verzieht sich in den Nebenraum des Opas, wirft sich aufs Bett und weint.

Sadbera, ihr einjähriger Sohn Martin und die dreijährige Tochter Valerjia husten viel und lang. Sie sind alle krank, längst chronisch, hier kann man nur krank werden. Sadbera hat neben Hustenanfällen auch Hepatitis B. Kindergeschrei, alle krabbeln und toben um den Besuch herum. Alle haben Läuse. Die Mutter wirkt überfordert. Der Teppich auf dem Boden, auf dem die Kinder schlafen, ist nass; angeblich sind Rohre darunter kaputt. Auch aus der Decke tropft es, wenn es regnet. Die Luft ist stickig und warm wie in der Biosauna. Ein betagter Heizstrahler glüht, inzwischen haben sie Strom, der auf den Opa läuft. Warmes Wasser kommt nur aus dem Kochtopf, als Badewanne dient eine Blechschale. Allerdings gibt es einen Wasserhahn, er funktioniert sogar. Geschirr stapelt sich in der Ecke, Sadbera spült es draußen vor der Tür in einem großen Plastikbehälter, zwischen Müll, Pinkelloch und Hühnerdreck.

Warum sieht das hier so aus? Offenbar legt keiner in der Siedlung Wert darauf, den Müll einzusammeln. Vielleicht gibt es andere Prioritäten: Einen Fernseher hat hier fast jeder, beim Opa nebenan steht auch einer. Eine Waschmaschine läuft dort sogar, aber sie wäscht nicht richtig.

Es sind Zustände ganz ähnlich denen, welche die junge Familie im Juli 2013 verlassen wollte, als sie sich mit einem Bekannten in einem privaten Kleinbus aufmachte und Serbien den Rücken kehren wollte, um im fernen Deutschland Asyl zu beantragen. Sadbera war bereits mit Martin schwanger und wollte nicht noch ein Kind in Serbien zur Welt bringen. Sie fuhren direkt zur Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Karlsruhe und stellten ihren Antrag. Bewilligt wurde der nie, aber weil es mit Martin später so viele Komplikationen gab, erhielten sie eine längere Duldung. Später stellte Sadbera einen Asylfolgeantrag.

Fünf Wochen ist es jetzt her, morgens um sechs Uhr am 20. Januar klopfen Polizisten bei Familie Ametovic im Freiburger Flüchtlingsheim, Hermann-Mitsch-Straße, und bringen sie zum Flughafen Baden-Baden. Die Kinder schlafen noch halb. Sammelabschiebung nach Serbien und Mazedonien. Im Charterflieger sitzen mehr als 150 Menschen aus verschiedenen Bundesländern. Die Aufregung in Freiburg ist groß. Es gibt Proteste und Petitionen – für die sofortige Rückkehr von Frau Ametovic und ihrer Kinder. Doch davon ist man heute weit entfernt. "Keine Chance", wird später der Innenminister aus Stuttgart sagen.

Wie soll es weitergehen? "Ich weiß es nicht, ich habe keinen Plan", sagt Sadbera. Dajana, sie ist kroatische Staatsbürgerin, spricht Serbisch und übersetzt. "Das ist sowieso alles sinnlos", platzt es aus ihr heraus, der Frust hat sich wochenlang aufgestaut. "Das ist doch keine Perspektive. Sie sind ihrem Schicksal ausgeliefert." Die Kinder in diesem Loch zu lassen, das sei Kindeswohlgefährdung. In Deutschland habe man so viel für die Familie getan, die Kinder seien sehr gut integriert gewesen, hätten ein besseres, kindgerechtes Leben geführt – und für was? Das ganze Geld, die ganze Arbeit umsonst?

Die Situation der Familie hat sich nicht gebessert seit der Ankunft. Deshalb ist Dajana erneut, diesmal mit ihrer Chefin Karin Herbener, nach Niš gekommen – sie will für eine sinnvolle Verwendung der Spenden sorgen, etwa 14 000 Euro sind es heute. Eine riesige Summe für serbische Verhältnisse. Ihre Hoffnung ist, eine alternative Bleibe für die Familie zu finden. Eine Mietwohnung wäre unrealistisch, weil kaum jemand an Roma vermieten möchte. Aber Kaufoptionen gibt es schon, ein Bezug könnte kurzfristig klappen.

Doch ein Handicap wird zu wenig berücksichtigt. Etwas, das untrennbar zur Geschichte der Großfamilie dazugehört: Es ist der Vater der Kinder. Als Dajana Reiser am nächsten Abend Sadbera zum Duschen und Besprechen für zwei Stunden aus dem Lager in ihr Pensionszimmer in der Innenstadt holt, offenbart sich ihr die zierliche, höchstens 1,50 Meter große Frau. Seit sie aus Deutschland zurück seien, neige ihr Mann zu Gewalt, erzählt sie. Beim letzten Besuch hatte Dajana veranlasst, dass eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation mit Sadbera Lebensmittel für sie und die Kinder einkauft. Das, was Sadbera in einem kleinen Schrank aufbewahrt, sind Reste davon. Das Restgeld vom Einkauf hat Sadbera bekommen, aber ihr Mann wollte es haben. Weil sie es ihm nicht geben wollte, habe er sie geschlagen. In Deutschland sei das nie so gewesen, sagt Sadbera.

Sie will sich schon länger von ihm trennen. Als sie die Frau von der Organisation habe anrufen wollen, habe er ihr Handy kaputtgemacht; sie hatte es von Dajana bekommen, um Kontakt halten zu können. Sie sind noch nicht einmal verheiratet, dennoch beansprucht Sadberas Mann, 28 Jahre alt, das Geld. Schon in Deutschland hatte er große Teile der staatlichen Hilfe verlebt. Dort bekamen sie mehr als das Zehnfache – Wohnung, Betreuung und Gesundheitsversorgung nicht einmal mitgerechnet.

Die Kinder führen jetzt ein Leben im Dreck, ihr Vater aber hat stets eine Zigarette in der Hand. Woher hat er das Geld? Auch dem Alkohol scheint er zugeneigt. Sadbera versinkt in Tränen, als sie Dajana Reiser erzählt, was die Sozialarbeiterin schon ahnt. Sie möchte weg, in ein Frauenhaus, egal wo, mit den Kindern. Sie schafft es nicht alleine.

Warum hat sie überhaupt so viele Kinder bekommen? "So sind wir Roma eben", sagt Sadbera achselzuckend, "eine andere Frau in der Siedlung hat acht Kinder, sie lebt wie eine Hündin." Sie habe nie so viele Kinder gewollt. Die meisten sind Frühchen gewesen, sie haben dauerhafte Schäden davongetragen, sind kleinwüchsig, geistig behindert. Nach dem zweiten Kind habe sie im Krankenhaus um eine Sterilisation gebeten, sagt Sadbera. Man habe ihr gesagt, das dürfe man nicht. Zudem habe es ihr Mann nicht erlaubt. Nach der Geburt ihres Jüngsten, dem kranken Martin – er hatte in Freiburg einen künstlichen Darmausgang bekommen – war es endlich so weit. Still und heimlich ließ sie es machen.

Am nächsten Morgen holen Dajana Reiser und Karin Herbener Sadbera zum Behördengang ab. Der kleine Dejan passt solange auf die anderen Kinder auf, sein Vater treibt sich lieber herum. Dajana Reiser will sich auf dem Amt dafür einsetzen, dass Sadbera in ein Frauenhaus darf. Doch die Ernüchterung folgt. Auf dem Amt, in dem fast nur Roma ein- und ausgehen, weist man ihr Anliegen nach stundenlangen Befragungen ab. Sie müsse ihren Mann bei der Polizei anzeigen, Sadbera aber hat Angst davor.

Auf dem Rückweg fragt Sadbera mehrmals, ob sie denn nicht in ein deutsches Frauenhaus gehen könne. Sie geht sogar noch weiter: Sie möchte die ältesten Söhne, Dejan und Stiven, zur Adoption freigeben, wenn das geht. Als Sadbera es ausgesprochen hat, sinkt sie in sich zusammen und weint. "Ich finde es unglaublich, was für eine starke Mutter Sadbera ist", sagt Dajana Reiser. Sadbera sei eine einfach strukturierte Frau und als Kind auf eine Schule für Behinderte gegangen. Im Grundschulalter sei sie verwaist. "Sie würde alles für ihre Kinder tun."

Die Helferin einer Nichtregierungsorganisation für Frauenrechte, mit der das Jugendhilfswerk im Fall Ametovic zusammenarbeitet, kennt das Leid vieler Roma-Familien. Eine Frau auf der Behörde habe sich wirklich für Sadbera einsetzen wollen, sagt die Frauenrechtlerin, aber ihr seien letztlich die Hände gebunden. Niš tue im Vergleich zu anderen Regionen seit Jahren zu wenig für die Lebensbedingungen der Roma-Familien. Rassismus sei sowieso allgegenwärtig, deshalb wolle sie auch selbst nicht namentlich in der Zeitung stehen. Auch den Frauen vom Jugendhilfswerk ist bewusst, das Sadberas Kinder nicht die einzigen sind, die hier so leben – an Straßenkreuzungen stehen Roma-Kinder im schulpflichtigen Alter und wischen die Scheiben von Autos, wenn die Ampel Rot zeigt.

Ohne Spendengelder hätten die Kinder wohl nur wenig zu essen. Sozialhilfe bekommt die Familie laut Sadbera noch nicht. Als sie die 16 500 Dinar abholen wollte (umgerechnet etwa 135 Euro), die ihrer Familie zustehen, sei sie abgewiesen worden. Sie brauche erst neue Personalausweise, die alten seien abgelaufen.

Wenigstens der kleine Dejan hat nach Wochen des Schrottsammelns, mit dem er ein paar Dinar verdiente, wieder einen geregelteren Alltag: Seit Donnerstag besucht er die vierte Klasse einer Schule unweit der Siedlung. Ein pädagogischer Assistent der Schule, selbst Roma, hatte ihn besucht und eingeladen. Dejan war sofort begeistert, das tägliche Vesperbrot, das Kindern von Sozialhilfeempfängern zusteht, bekommt er aber nicht – weil der Bescheid wegen der fehlenden Ausweise nicht da ist.

Als Dajana Reiser und Karin Herbener am letzten Abend ihres Aufenthalts noch einmal fünf Tüten voller Lebensmittel einkaufen und zu Sadbera in die Roma-Siedlung bringen – auch drei Koffer voller Kleidung und Geschenke aus Freiburg haben sie mitgebracht –, ist der Vater der Kinder da. Es kommt zum Streit. Dajana Reiser wirft ihm vor, dass er in den letzten Tagen nur zur Show mit Baby Martin auf den Armen umhergelaufen sei, in Wahrheit kümmere er sich um gar nichts. Sie sagt ihm in deutlichen Worten, dass er von dem Geld aus Deutschland keinen Cent sehen werde. Der Familienvater reagiert wütend. Er will "Pare" – Geld. Er brauche ihre Lebensmittel nicht. "Dann nimm Sadbera und nimm die Kinder und geht", sagt er und verschwindet.

Sadbera sitzt auf ihrem kleinen Sofa, beinahe das einzige Möbelstück hier im Haus, und zittert. Dajana Reiser entscheidet, noch eine Stunde hierzubleiben, damit Sadbera keine Schläge bekommt. Dejan sitzt neben seiner Mutter, Tränen in den Augen und auf dem Kopf die neue Schildkappe, die er von seinen Freunden aus Freiburg geschenkt bekommen hat.

 

 


 

Hintergrund: Aussage gegen Aussage

Hilft Serbien Abgeschobenen? Die Wahrheitssuche ist schwer.

 

"Nach unseren Informationen wurde ihnen Hilfe angeboten", versicherte Innenminister Reinhold Gall (SPD) unserer Zeitung Anfang Februar. Die Unterstützer der Familie Ametovic bestreiten das: "Nicht einmal eine Fahrkarte" hätten sie bekommen. Was stimmt denn nun? Das ist sogar an Ort und Stelle, am Flughafen Belgrad, schwer zu ermitteln. Für Journalistenfragen zeigte man sich dort nicht offen, "aus Zeitgründen". Schon die Suche nach Beamten, die für Abgeschobene zuständig sind, gestaltete sich schwierig.

Als Dajana Reiser aus Freiburg vom Flughafen-Fundbüro aus mit einem Verantwortlichen telefonieren darf, trifft sie auf Verweigerung. Bestätigt wird nur, dass auch an diesem Tag Abgeschobene erwartet werden. Woher kommen sie? Keine Auskunft. Der Beamte verweist auf das Flüchtlingskommissariat, das im Fall einer konkreten Anfrage rückkehrender Abgeschobenen nach einer Notunterkunft verständigt werde. Er sagt auch, Abgeschobene müssten von sich aus nach einer Notunterkunft fragen – aktiv angeboten würde das ihnen nicht. Sadbera Ametovics Mann gibt an, er habe damals, vor fünf Wochen, zunächst nach Geld für Fahrkarten nach Niš gefragt. Als dies abgelehnt worden sei, habe er stattdessen direkt nach Fahrkarten gefragt. Vergeblich.

Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat auf eine Bitte der Badischen Zeitung, vor Ort in Belgrad einen Ansprechpartner zu vermitteln, nicht reagiert. Sadbera Ametovic versichert, sie hätte jegliche Unterstützungsangebote angenommen und auch eine Unterkunft bezogen. Ob ihr Mann ein solches Angebot bekam und ausgeschlagen habe, kann sie nicht beantworten. Er selbst behauptet, er habe kein Angebot bekommen. Zuletzt hatten Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Innenminister Gall die Abschiebung weiterhin verteidigt, sie sei "geboten und zumutbar" gewesen.