Deutsche Gesetzeslogik in Sachen Flucht und Asyl: Wir nehmen ein paar Syrer mehr, dafür müssen die Roma vom Westbalkan zu Hause bleiben. Und alle kommen leichter in den Knast. Ein Leitartikel.
In Deutschland gibt es demnächst ein neues Gesetz: das innovative Ursache-Wirkungs-Gesetz. Der Bundestag hat es in der vergangenen Woche beschlossen. Der Bundesrat muss noch zustimmen – und sich dabei von der Erkenntnis der Physik inspirieren lassen, wonach die Schwerkraft nachlässt, wenn die Sonne scheint, sowie von der Einsicht der Biologie, dass die Population der Rotkehlchen von der schwindenden Fortpflanzungsbereitschaft des Schabrackentapirs profitiert.
Übertragen auf das innovative Ursache-Wirkungs-Gesetz bedeutet das: Je mehr Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs in Deutschland Schutz vor Verfolgung finden, desto kommoder leben in den Westbalkan-Staaten die Roma; je unsicherer die Lage für die Menschen im verwüsteten Syrien, desto sicherer sind die Staaten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien.
Das ist verrückt? Selbstverständlich. Aber es ist die Logik des jüngst vom Bundestag beschlossenen „Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten“. Besser träfe es die Bezeichnung: Gesetz zur Abwehr der Roma.
Keine fiktiven Horrorszenarien
Wann gilt der Herkunftsstaat eines Flüchtlings als sicher? Wenn sich plausibel nachweisen lässt, dass in dem Staat weder Verfolgung noch Folter noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu befürchten sind. Für die Westbalkan-Staaten aber ist die systematische Diskriminierung der Roma belegt. Die Armut, in der sie leben, ist notorisch: „Eine der zahlreichen Folgen ist, dass viele Menschen ‚rechtlich unsichtbar‘ sind, also keine gültigen Ausweisdokumente, keinen Zugang zu Sozialleistungen und keine Krankenversicherung haben.
Viele Kinder sind standesamtlich nicht gemeldet und damit de facto staatenlos.“ Das ist kein fiktives Horrorszenario einer Menschenrechtsorganisation, sondern die nüchterne Zustandsbeschreibung auf der Website der deutschen Botschaft in Sarajevo. Werden die Roma jetzt zu Flüchtlingen aus einem sicheren Herkunftsland erklärt, hat das zur Folge, dass ihre Asylanträge als unbegründet abgelehnt werden, es sei denn, ihnen gelingt mit größtem bürokratischem Aufwand der Beweis ihrer Diskriminierung.
Jeder weiß, dass die Westbalkan-Staaten für Roma nicht sicher sind, auch die Koalitionsfraktionen wissen das. Aber sie bestreiten es. Bisher galt: Wenn syrische Flüchtlinge an die Türen der Bundesrepublik klopften, war kaum ein Platz für sie frei. Künftig gilt: Klopfen sie an, wird die Tür für einige wenige von ihnen aufgetan, aber für die Roma fester denn je verrammelt. Nur deshalb sollen ihre Herkunftsländer in Zukunft als sicher gelten. Mit anderen Worten steht es so auch in einer Pressemitteilung der Unionsfraktion: „Mit dem Beschluss des Bundestages, drei Westbalkan-Staaten, die die EU-Mitgliedschaft anstreben, als sichere Herkunftsstaaten einzustufen, handeln wir verantwortungsbewusst und erreichen eine Entlastung unseres Asylsystems.“ Was ist ein gutes Asylrecht? Ein Recht, das das Asylsystem entlastet.
Flüchtlinge potenzielle Straftäter
Ungerecht wäre das Urteil, die Verschärfung der Asylpolitik der Bundesregierung beschränke sich auf die Abwehr der Roma. Das Bundesinnenministerium hat einen Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ vorgelegt, das Flüchtlinge per se wie potenzielle Straftäter behandelt. Denn fast jeder Flüchtling, der nach Deutschland gelangt, kann danach künftig inhaftiert werden. Dafür genügt eine „erhebliche Fluchtgefahr“, für die wiederum nicht mehr erforderlich ist als das, was einen Flüchtling gemeinhin zum Flüchtling macht: falsche Bezeichnung des Einreisewegs, keine Ausweispapiere, Einreise unter Umgehung einer Grenzkontrolle. So gut wie jedem Flüchtling, der Deutschland erreicht, kann der eine oder andere Punkt nachgewiesen werden, so gut wie jedem Flüchtling droht damit die Aufnahmehaft. Offenbart er sich hingegen und legt alles vorbehaltlos da, dann kommt er in Abschiebehaft.
Das Konzept der Bundesregierung, „das Asylrecht behutsam zu ändern“ (Presseerklärung der Union), verwandelt das Flüchtlingsrecht in ein verschärftes Haftrecht – und in ein erweitertes Gewahrsamsrecht. Denn Behörden soll es erlaubt werden, Flüchtlinge in „Gewahrsam“ zu nehmen, ohne dass ein Richter das überprüfen muss – wenn die Einholung der richterlichen Anordnung mehr Zeit beanspruchen würde, als der Gewahrsam dauert. In Artikel 104 Absatz 2 des Grundgesetzes heißt es: „Über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung hat nur der Richter zu entscheiden.“ Aber das Grundgesetz hat offenbar nicht mitzureden, wenn die Regierung die „behutsame“ Änderung des Flüchtlingsrechts betreibt.
Der Bundespräsident hat jüngst gefordert: „Eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik hat sicherzustellen, dass jeder Flüchtling von seinen Rechten auch Gebrauch machen kann.“ Die deutsche Flüchtlingspolitik hat offenbar sicherzustellen, dass Flüchtlinge möglichst wenig Rechte haben, auf die sie sich berufen können.