Im Zweifel für den Angeklagten

Erstveröffentlicht: 
01.02.2014

Landgericht Freiburg spricht 31-jährigen Neonazi aus der Ortenau am Freitag auch im zweiten Hauptverfahren frei.

 

Von: Patrik Müller

 

RIEGEL/FREIBURG. Im Zweifel für den Angeklagten: Der 31-jährige Neonazi aus der Ortenau ist am Freitag auch in der zweiten Auflage des Strafverfahrens vom Vorwurf der versuchten Tötung freigesprochen worden. Er war im Oktober 2011 beim Pendlerparkplatz in Riegel mit seinem Auto auf Linksextreme zugefahren – und hatte einen von ihnen schwer verletzt.
Die Zuschauerränge im Saal IV des Freiburger Landgerichtes sind fast vollständig besetzt. Journalisten haben ihre Notebooks aufgeklappt, zwei Kameramänner warten auf den Angeklagten und die Richter. Die drei Juristen und die beiden Schöffen betreten den Saal. Sie stehen eine halbe Minute lang stocksteif da und lassen sich filmen, dann müssen die Kameramänner den Saal verlassen – und der Vorsitzende Richter Arne Wiemann verkündet das Urteil. Freispruch.

Im Publikum wird es laut. Einige Mitglieder der linken Szene rufen "Recht und Nazis Hand in Hand, organisiert den Widerstand!" und lassen einen Regen von Papierschnipseln auf die ersten Zuschauerreihen niedergehen – die tragen die Aufschrift "Auf dem rechten Auge blind."

Der Satz ist eine Anspielung auf die Entscheidung, die die Richter des Freiburger Landgerichtes im ersten Hauptverfahren in dieser Sache gefällt hatten. Richterin Eva Kleine-Cosack hatte ihre Urteilsbegründung damals mit dem Satz eröffnet, dass Justitia auf dem rechten Auge nicht blind sei. Dann sprach sie den Angeklagten frei, Staatsanwaltschaft und Nebenklage gingen in Revision. Das Verfahren wurde neu aufgerollt.

"Die Kammer hat sich intensiv mit der Motivationslage des Angeklagten und seiner rechtsradikalen Vorgeschichte auseinandergesetzt", erklärt Richter Wiemann. "Wenn es darum geht sicherzustellen, was eine Person gedacht hat, stößt die Justiz an die Grenzen der Erkenntnisgewinnung. Wenn Zweifel oder Unsicherheiten bleiben, stellt es ein ehernes Prinzip des Rechtsstaates dar, in dubio pro reo freizusprechen." Im Zweifel für den Angeklagten. Wiemann: "Dieser Grundsatz gilt unabhängig von der Person des Angeklagten und der Frage, welchem politischen Lager er zugehörig ist."

Zweifel gibt es tatsächlich. Wenige Tage vor dem Vorfall hatte der Angeklagte im Facebook-Chat Gewaltfantasien gegen seine politischen Gegner geäußert. "Ich warte ja nur drauf, dass einer mal angreift!", schrieb er, "dann kann ich ihn endlich mal die Klinge fressen lassen!" Das Problem: Diese Aussage lässt sich nicht hundertprozentig dem Angeklagten zuordnen – die Emmendinger Staatsschützer hatten versäumt, seinen Rechner zu beschlagnahmen.

Für das Urteil spielte der Fehler wohl keine große Rolle. Seine Kammer, sagt Richter Wiemann, sei davon überzeugt, dass diese Sätze vom Angeklagten stammen. Bei seiner Vernehmung hätte der Angeklagte sagen können, dass er es nicht geschrieben habe – das habe er aber nicht getan. Wiemann: "Die menschenverachtenden Äußerungen lassen es als naheliegend erscheinen, dass er den Angriff zum Anlass genommen hat, mit Gewalt gegen seine Gegner vorzugehen." Für eine Verurteilung reichte das aber nicht. Wiemann: "Es ist ein Unterschied, ob man sicher vor dem PC sitzt oder sich einer Übermacht von fünf Angreifern gegenübersieht. Dass der Angeklagte sich retten wollte, erscheint nicht unplausibel – und ist nicht widerlegbar. Wir können es nicht ausschließen."

Der Bundesgerichtshof hatte gerügt, dass die Freiburger Richter in ihrem ersten Urteil den "Verteidigungswillen" des Angeklagten nicht gründlich genug unter die Lupe genommen hätten. "Erst wenn andere Beweggründe wie Feindschaft zu dominant sind, kann von Abwehrverhalten keine Rede mehr sein", sagt Wiemann. Der Angeklagte habe sich aber einem "gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff" ausgesetzt gesehen – laut Strafgesetzbuch die Bedingung für Notwehr. Einer der Angreifer hatte Pfefferspray dabei, ein Anderer einen mit Sand gefüllten Handschuh – ein Dritter möglicherweise einen Schlagstock. "Der Angeklagte", sagt Wiemann, "hätte mit schweren körperlichen Attacken rechnen müssen."

Er und seine Kollegen hatten auch prüfen müssen, ob es Alternativen gegeben hätte, ob sich der Angeklagte anders hätte wehren können. Das verneinen sie. Und: Die Geschwindigkeit des Autos sei nicht so hoch gewesen, dass alle Angreifer – wenn auch nur knapp – dem Fahrzeug nicht hätten ausweichen können.