Charité Berlin: Ver.di fordert Tarifvertrag über Mindestbesetzung in der Krankenpflege. Regelung hätte Pilotcharakter für Bundesrepublik
Von Jörn Boewe
Immer weniger Pflegepersonal muß in immer kürzerer Zeit immer mehr Patienten versorgen. Diese Belastung wird seit Jahren potenziert. Am Berliner Universitätsklinikum Charité fordert die Gewerkschaft ver.di jetzt, die Mindestbesetzung auf den Stationen in einem Klinikum per Tarifvertrag festzulegen.
»Wenn nicht ausreichend Fachpersonal vorhanden ist, wird die Patientenversorgung gefährdet«, sagte der Vorsitzende der ver.di-Betriebsgruppe, Carsten Becker, am Donnerstag in Berlin vor Journalisten. Die rund 4000 Pflegekräfte der Charité – zwei Drittel von ihnen Teilzeitkräfte – schieben laut Becker 120000 Überstunden »wie eine Bugwelle« vor sich her. »Wenn man das in Geld ausdrücken wollte, geht es um 2,5 Millionen Euro, die die Charité den Pflegemitarbeitern schuldet.« Zwar gebe es eine Regelung, nach der Überstunden innerhalb von zwölf Monaten durch Freizeit ausgeglichen werden müßten, so Becker. Das Problem sei nur, daß ständig mehr neue dazu kommen, als alte abgebummelt werden können.
»Ein Bundes- oder Landesgesetz zur Mindestpersonalbesetzung an Krankenhäusern wäre zweifellos die bessere Lösung«, betonte der Gewerkschafter. Aber da dies bei den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen im Moment »nicht realisierbar« sei, »wollen wir das in einem Tarifvertrag regeln«. Es wäre die erste derartige Vereinbarung im Gesundheitswesen der Bundesrepublik Deutschland.
139000 stationäre Fälle wurden nach ver.di-Angaben im vergangenen Jahr in der Berliner Charité versorgt – 2010 waren es noch 120000. Während die durchschnittliche Verweildauer der Patienten in Krankenhäusern bundesweit seit 2005 von 7,7 Tagen auf 6,8 Tage gesunken ist, liege sie an der Charité »schon unter sechs Tagen«. Gleichzeitig wurden Stellen gestrichen. 2005 hatte das Klinikum an seinen vier Standorten mehr als 15000 Beschäftigte, heute sind es nur noch 13000, inklusive Ärzten und Servicepersonal. Dabei erziele das Klinikum Gewinne, so Becker: Im vergangenen Jahr acht Millionen Euro, für 2012 seien vier Millionen Euro Überschuß prognostiziert.
Akut verschärft habe sich die Personalsituation, als die Charité im Juni beschloß, auf den Einsatz von »Leasingkräften«, also Leiharbeitern, in der Pflege zu verzichten. Aus Sicht der Gewerkschaft hätte dies »eigentlich eine begrüßenswerte Entscheidung« sein können – wenn das Klinikum den Personalmangel durch Neuanstellungen ausgeglichen hätte, sagte Meike Jäger, ver.di-Verhandlungsführerin und Landesfachbereichsleiterin Gesundheit, am Donnerstag auf der Pressekonferenz. Statt dessen habe die Charité-Führung auf weitere Arbeitsverdichtung gesetzt. So habe man versucht, Auszubildende für Nachtdienste einzuteilen. Außerdem seien gering qualifizierte Servicekräfte anstelle von Pflegefachpersonal eingestellt worden, was dann von der Geschäftsführung als Entlastung der Mitarbeiter dargestellt worden sei.
Für die erste Oktoberwoche hat die Gewerkschaft dem Vorstand der Charité Sondierungsgespräche angeboten, zwei Wochen später will man in die erste Verhandlungsrunde gehen. Gewerkschaftssekretärin Jäger schloß gestern Streiks ausdrücklich nicht aus. Zwar sei ein Arbeitskampf »die Ultima ratio«. Die Gewerkschaft gehe aber »grundsätzlich nur noch in Tarifauseinandersetzungen, wenn wir überzeugt sind, daß die Beschäftigten hinter uns stehen und wir die Forderungen auch durchsetzen können«.