Schünemänner, Staatsschützer, Schnüffelhunde... Schluss damit! Linke Politik verteidigen!

A.L.I. Antirepressions-Poster Januar 2012

Vor genau einem Jahr, am 28. Januar 2011, wurde bei dem Antifaschisten Martin R. aus Göttingen auf Grund eines angeblichen Böller-Wurfs auf einer Demonstration eine erzwungene DNA-Entnahme durchgeführt. Vor zwei Jahren, am 27. Januar 2010, durchsuchte die Polizei rechtswidrig ein linkes Wohnprojekt in der Roten Straße in Göttingen, nachdem es in einer Teeküche des Landeskreisamtes zu einer „Verpuffung“ kam. Marrtin R. wird hiermit haltlos in Zusammenhang gebracht – seine DNA besorgte sich die Polizei für ihr Konstrukt eines „linksextremen Anschlags“. In wenigen Tagen, am 31. Januar 2012, wird dem Göttinger Antifaschist erneut der Prozess wegen des Böllerwurfs gemacht – von dessen Vorwurf er bereits am 4. Juli 2011 vom Amtsgericht Göttingen freigesprochen wurde.

Im Januar gibt es hierzu verschiedene Veranstaltungen unter anderem eine Filmvorführung und ein Konzert. Mehr infosfindet ihr unter www.ali.antifa.de

 

Schünemänner, Staatsschützer, Schnüffelhunde... Schluss damit!

 

Vor genau einem Jahr, am 28. Januar 2011, wurde bei dem Antifaschisten Martin R. aus Göttingen auf Grund eines angeblichen Böller-Wurfs auf einer Demonstration eine erzwungene DNA-Entnahme durchgeführt. Vor zwei Jahren, am 27. Januar 2010, durchsuchte die Polizei rechtswidrig ein linkes Wohnprojekt in der Roten Straße in Göttingen, nachdem es in einer Teeküche des Landeskreisamtes zu einer „Verpuffung“ kam. Marrtin R. wird hiermit haltlos in Zusammenhang gebracht – seine DNA besorgte sich die Polizei für ihr Konstrukt eines „linksextremen Anschlags“. In wenigen Tagen, am 31. Januar 2012, wird dem Göttinger Antifaschist erneut der Prozess wegen des Böllerwurfs gemacht – von dessen Vorwurf er bereits am 4. Juli 2011 vom Amtsgericht Göttingen freigesprochen wurde.

 

In einem ausführlichen Aufruf setzt sich die A.L.I. mit den Auswirkungen der Repression aus der Feder des Innenministers Schünemanns auseinander. Den siebenseitigen Aufruf könnt ihr hier als PDF (1,8 MB) runter laden.

 

Schünemänner, Staatsschützer, Schnüffelhunde...Schluss damit! Linke Politik verteidigen!

Seit mehreren Jahren sind in Göttingen erneut verstärkte Repressionen, die sich in politischer Justiz und Polizeigewalt auf der Straße äußern, zu spüren. Der politische Motor dieser Zuspitzung sitzt im Niedersächsischen Innenministerium, hier ist Uwe Schünemann seit 2003 im Amt. Vor genau einem Jahr, am 28. Januar 2011, wurde bei dem Antifaschisten Martin R. aus Göttingen auf Grund eines angeblichen Böller-Wurfs auf einer Demonstration eine erzwungene DNA-Entnahme durchgeführt. Vor zwei Jahren, am 27. Januar 2010, durchsuchte die Polizei rechtswidrig ein linkes Wohnprojekt in der Roten Straße in Göttingen, nachdem es in einer Teeküche des Landkreisamtes zu einer „Verpuffung“ kam. Martin R. wird hiermit haltlos in Zusammenhang gebracht – seine DNA besorgte sich die Polizei für ihr Konstrukt eines „linksextremen Anschlags“. Jegliche Beweise blieben Polizeichef Kruse, Verfassungsschutzpräsident Wargel und Innenminister Schünemann der Öffentlichkeit bisher schuldig. In wenigen Tagen, am 31. Januar 2012, wird dem Göttinger Antifaschisten erneut der Prozess wegen des vermeintlichen Böllerwurfs gemacht – von dessen Vorwurf er bereits am 4. Juli 2011 vom Amtsgericht Göttingen freigesprochen wurde.

Die „Verpuffung“ in der Teeküche im Gebäude des Kreishauses ist der Ausgangspunkt für eine politische Kampagne gegen die radikale Linke in Göttingen. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann deklarierte die „Verpuffung“ als eine Tat von „Linksextremisten“ und stellt die linke Szene unter „Terrorverdacht“. Doch selbst laut eines Gutachtens des Landeskriminalamtes können keine Aussagen zur Herkunft des angeblichen Brandsatzes (Uhu-Kleber und Streichhölzer) getroffen werden. Die Umsetzung seiner Terror-These hat sich der CDU-rechtsaußen-Minister Schünemann durch Personaltausch selbst ermöglicht. Eben in jenem Zeitraum, in dem im Kreishaus ein Wasserkocher verpuffte, tauschte Schünemann die Führungsspitzen des niedersächsischen Verfassungsschutzes und der Göttinger Polizeiführung aus: Hans Wargel übte von 2005 bis Dezember 2009 das Amt des Göttinger Polizeipräsidenten aus und wurde ab Januar 2010 von Schünemann zum niedersächsischen Verfassungsschutzpräsidenten berufen. Ab Februar 2010 setzte Schünemann dafür Robert Kruse als Göttinger Polizeipräsidenten ein. Kruse fungierte vorher als Vizepräsident des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Uwe Schünemann setzt ihm genehme Konservative in den Polizei- und Geheimdienst, so dass diese Institutionen als Kampagnenorgane der rechten CDU fungieren. Die strikte Trennung von Polizei und Geheimdienst als Konsequenz aus den Erfahrungen mit der Gestapo während des deutschen Faschismus´ wird hierbei bewusst unterlaufen.

Das Konglomerat aus Schünemann und seinen Männern konfrontiert nunmehr die linke Szene in Göttingen durch haltlose Anschuldigungen und Diffamierungen mit Repression, indem sie „linksextremistischen Terror“ verlautbaren und in der Konsequenz ein Haus der Roten Straße durchsuchen und Martin R. verdächtigen lassen. Spätestens nach der Hausdurchsuchung in der Roten Straße lösen sich die Diffamierungen und Vermutungen selbst in der medialen Öffentlichkeit in Luft auf, nicht zuletzt deshalb, weil die Polizei grob fahrlässige Ermittlungsmethoden anwandte. Als Antwort darauf beschimpfte der Göttinger Polizeichef den Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblatts über die Medien, in der Hoffnung, ihn mundtot machen zu können.

Kurze Zeit nach den Vorfällen um Kreishaus, Hausdurchsuchung und Böller-Wurf erscheint am 10. März 2010 in Göttingen die Broschüre „Für gesellschaftliches Engagement – gegen Kriminalisierung und politische Justiz“. Hier werden 17 markante Kriminalisierungsfälle in der Stadt der letzten Jahre gesammelt dargestellt und somit politischer Druck ausgeübt. Diese Broschüre wird mehrfach Gegenstand von Diskussionen im Rat der Stadt Göttingen. So beschloss der Stadtrat am 7. Mai 2010 einen Runden Tisch einzurichten. Der Stadtrat hatte u.a. Diskussionsbedarf zu den fragwürdigen Ermittlungen bezgl. der „Verpuffung“ im Kreishaus und bat Polizeipräsident Kruse, diese in der Ratssitzung am 5.11.2010 zu erläutern. Kruse sagte sein Kommen zum Runden Tisch ab. Auch die eingeladene Staatsanwaltschaft erschien nicht. Als Antwort auf die kritische Öffentlichkeit luden Polizeiführung und Staatsanwaltschaft stattdessen die VertreterInnen der Ratsfraktionen für den 24.11.2010 zu einem Geheimgespräch hinter verschlossenen Türen ein. Doch auch das ging mächtig in die Hose: Mit einer Polizeiabsperrung wurden ca. 50 Personen daran gehindert das Rathaus zu betreten, die bei dem Gespräch für die nötige Öffentlichkeit sorgen wollten. Kruse drückte sich davor, in einer öffentlichen Sitzung den Fragen der Fraktionen des Göttinger Stadtrats Rede und Antwort zu stehen. Hinter den verschlossenen Türen erklärte der Polizeichef, er verstehe einen Runden Tisch als „Einrichtung aus der damals untergegangenen DDR“. Als ausführende Hand von Innenminister Schünemann schlägt Kruse also nicht nur mit konkreter Repression gegen linke AktivistInnen zu, sondern versucht selbst die demokratischen Gremien der Stadt, die Göttinger Zivilgesellschaft und die mediale Öffentlichkeit auf Linie zu bringen.

Während Schünemann seine Energien derart auf die radikale Linke konzentriert, können Neonazis in Südniedersachsen und angrenzenden Regionen davon ausgehen, dass sie von ihm und seinen Männern zurückhaltend behandelt werden. Bei einer Hausdurchsuchung des BKA am 30.10.2007 auf dem Anwesen Thorsten Heises im thüringischen Fretterode fand die Polizei u.a. ein zerlegtes Maschinengewehr und eine Maschinenpistole. Neben Wohnungen in Osnabrück und Nordrhein-Westfalen, fand am 26.4.2007 auch eine Hausdurchsuchung gegen einen Neonazi in Northeim statt. Dabei wurden im Raum Osnabrück Schusswaffen und Munition, in Northeim ein Messer und Computer beschlagnahmt. Die Beschuldigten hatten während eines Sommerlagers der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) im Sommer 2006 mit Schusswaffen posiert. Schon sechseinhalb Jahre zuvor, am 23.12.1999, warnte die Polizei bekannte Göttinger AntifaschistInnen vor Briefbomben aus Neonazikreisen. „Es besteht die reale Gefahr , dass Angehörige der rechtsextremen Szene gegen Autonome oder auch ordentliche Linke aus Göttingen Sprengstoffanschläge verüben könnten“, so damals der Leiter der zuständigen LKA-Abteilung. Bei Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit einem Verfahren wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung“ (§129a) gegen Neonazis der NPD-Göttingen und Kameradschaft Northeim hatte die Polizei im November 1999 Unterlagen über Sprengstoff, Zündmittel und Bauanleitungen für Briefbomben beschlagnahmt. Uwe Schünemann kommentierte die bedrohlichen Waffenfunde von 2007 laut Zeitungsinterview vom 7.11.2007 lediglich damit, dass „viele Rechtsextremisten (..) eine hohe Affinität zu Waffen [haben].“ Nicht näher genannte Experten des Verfassungsschutzes erklärten zudem, eine „Bewaffnung der rechtsextremistischen Szene sei nicht erkennbar“.

In Göttingen und der Region werden derweil MigrantInnen angegriffen. In der Nacht vom 26. auf den 27.9.2008 brannte im Göttinger Ritterplan ein Afro-Shop aus. Der Besitzer des Shops, Joseph M., war bereits seit Monaten rassistischer Hetze seines Vermieters Jochen Friedrich Freiherr von Waltershausen ausgesetzt. Von Walterhausen, ebenfalls ein Waffennarr, hatte zuvor bei der NPD-Göttingen schriftlich um Hilfe ersucht. In der Nacht vom 17. auf den 18.4.2011 kam es zu einem Brandanschlag auf das Haus „Södderich“ von Wissam Nasreddine, das an der B27 bei Waake (in der Nähe Göttingens) liegt. Der Brandanschlag wurde mit der Sprüherei „NPD“ am Haus begleitet. Nasreddine wurde zuvor bereits von Neonazis im Internet bedroht. Am Vorabend des Landesparteitages in Northeim vom 22.5.2011 gab es einen Brandanschlag gegen einen kurdischen Gemüseladen in Northeim. Gegenüber des kurdischen Gemüseladens treffen sich regelmäßig die lokalen Neonazis. Im Fall des Södderich berichtete die Polizei lediglich von „Farbschmiereien“ und ermittelt in „alle“ Richtungen. In keinem dieser drei Fälle ermittelte die Polizei hinsichtlich eines neonazistischen Hintergrundes.

Uwe Schünemann kaschiert also bewusst die Gefahren von Rechts. Bei einer Pressekonferenz am 14.11.2011 zu den Morden an neun MigrantInnen durch Neonazis des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), in dessen Zusammenhang auch der Neonazi Holger G. aus Lauenau (Kreis Schaumburg) bei Hannovers festgenommen wurde, bezeichnete der Innenminister Holger G. lediglich als „Mitläufer“. Dieser sei seit Ende der 1990er Jahre bis 2004 nur marginal in Erscheinung getreten. Nur zwei Tage später, am 16.11.2011, präsentierten Schünemann und sein Verfassungsschutzpräsident Hans Wargel allerdings, Holger G. sei bereits 1999 auf Bitten des thüringischen Verfassungsschutzes hin observiert worden. In seinem Observationsberichtder bezeichnete der niedersächsische Verfassungsschutz Holger G. hingegen als „Rechtsterroristen“. Diese grundsätzlich andere Einschätzung im Observationsbericht hatte allerdings keine Konsequenzen für die niedersächsische Geheimdienst-Akte Holger Gs. Der Neonazi und NSU-Unterstützer konnte in Niedersachsen weiter unbehelligt agieren. In einer Landtagsanfrage nach den zu Tage getretenen rassistischen Morden durch die NSU erklärte Schünemann am 29.11.2011 im niedersächsischen Parlamant bzgl. der Waffenfunde in Südniedersachsen von 2007 bis 2009 erneut: „In Niedersachsen lagen (…) keine Erkenntnisse vor, dass sich Rechtsextreme bewaffnen, um geplant politisch motivierte Straftaten zu begehen“. Der Innenminister verwies erneut verharmlosend auf die „Affinitität zu Waffen“ von Neonazis. Damit verwischt er auch vor dem Hintergrund der neun bundesweiten Morde durch Neonazis mit Unterstützung in Niedersachsen weiterhin die politischen Hintergründe der faschistischen Gewalt.

Die polizeiliche Einordnung und die faktischen Nicht-Ermittlungen nach den Anschlägen auf den Afro-Shop in Göttingen den Södderich bei Waake und den kurdischen Gemüseladen in Northeim folgen genau dem oben beschriebenen Schünemann-Muster der Verharmlosung und Verleugnung von Neonazigewalt sowie der Denunziation der Opfer dieser Angriffe.

Innerhalb dieser Logik liegt es für Schünemann, Kruse und Wargel nur Nahe, zum Kampf gegen linke AktivistInnen zu blasen. Das dabei an den Tag gelegte Rechtsverständnis und die methodischen Vorgaben offenbart das von Schünemann geführte Inneneministerium in einem Schreiben an den Landkreis Göttingen. Hierin wird vorgeschlagen, unliebsamme MigrantInnen mittels „Wohnungsdurchsuchungen, Zwangsvorführungen, Strafverfahren und Ersatzfreiheitsstrafen“ mürbe zu machen. Diesen Repressions-Cocktail bekommen innerhalb Göttingens linker Szene vor allem besonders exponierte Einzelpersonen wie der antifaschistische Aktivist Martin R. zu spüren. Auch wenn alle Anschuldigungen offensichtlich konstruiert sind und bisher auch vor Gericht keinen Bestand haben, soll mittels Querverbindung zur Teeküchen-Verpuffung und unablässigen neuen Vorwürfen ein abschreckendes Exempel an Martin R. statuiert werden.

Linksradikale Politik erfährt seit jeher Repression Seiten des Staates. Unsere Solidarität als Antwort ist somit immer ein, wenn auch abwehrender, Teil des Kampfes gegen diesen Staat. Um die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Niedersachsen mit Innenminister Schünemann, aber auch Verfassungsschutz-Präsidenten Wargel und Göttingens Polizeipräsidenten Kruse einordnen zu können, ist es uns wichtig, die einzelnen Stationen um Teeküche, Hausdurchsuchung, Böllerwurf- und DNA-Prozess zusammen zutragen. Durch diese Details wird nicht nur die Absurdität der Vorwürfe gegen Martin R. deutlich, sondern diese dienen auch als fundiertes Wissen in unserem solidarischen Kampf.

Der Wasserkocher in der Küche des Göttinger Kreishauses

Am 22. Januar 2010 kam es in der Teeküche des Göttinger Kreishauses zu einer „Verpuffung“, als ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde die von ihm mitbenutze Küche betritt. Diese Küche wird gleichzeitig von verschiedenen Behörden genutzt. Polizei und Presse machten daraus „die Teeküche der Ausländerbehörde“.

Den Verdacht einiger Mitarbeiter, dass es sich um einen Wasserkocher mit Kabelbrand handeln könnte, findet in ersten Verlautbarungen der Polizei keine Beachtung. Ohne heiße Spur verbreitet die Göttinger Polizei, es sei eine „Unkonventionelle Brand- und Sprengvorrichtung“, bestehend aus Klebstoff mit Streichhölzern, von „Linksextremisten“ in der Küche gezündet worden. Bundes- und Landeskriminalamt widersprechen dieser Version nicht.

Als Begründung für den „politischen Hintergrund“ wurde ein weit ab von der Teeküche gefundenes Pappschild mit der Aufschrift „Abschiebe Stopp“ herangezogen. Dieses Schild wurde laut Schünemann „in unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Nähe zum Tatgeschehen“ gefunden. In welchem Zusammenhang das Schild mit der Verpuffung steht, ist unklar. Erst bezeichnete es die Polizei als „BekennerInnenschreiben“, später diente es als Spurenträger. Die Teeküche, die nicht einmal ausschließlich zur Ausländerbehörde gehört, liegt 10-15 Meter vom dem Treppenhaus entfernt, in welchem das Schild gefunden wurde. Das Schild hatten nachweislich verschiedene Personen in der Hand, bevor es zu den „Ermittlern“ fand.

Hunde in der Roten Straße


Am 27. Januar 2010 versuchte die Polizei mithilfe von zwei „Mantrailer-Hunden“ einer privaten Hundetrainerin aus Nordrhein-Westfalen, eine Spur zu den vermeintlichen Tätern zu finden. Was die Hunde als Spurenträger vor die Nase bekamen, wurde auch nach Anfragen im niedersächsischen Landtag nie veröffentlicht. Vielleicht das Schild mit dem Geruch unterschiedlicher Menschen?

Als die Hunde in Göttingen zur Spurensuche losgelassen wurden, waren seit der „Verpuffung“ im Kreishaus bereits fünf Tage mit Regen und Schnee vergangen. Wie eine GPS-Karte zeigt, lief einer der beiden Hunde demnach in die Grone-Landstraße, die Jheringstraße, in den Kreuzbergring und weiter in die Herzberger Landstraße.

Die Hunde liefen so mehreren Spuren im Zick-Zack-Kurs durch die ganze Stadt hinterher. Die Odyssee der beiden Spürnasen „Quinzy“ und „Ella“ führte nun auch in die Rote Straße, in der einer der Hunde seine Notdurft an einem Baum verrichtete. Danach lief er weiter in die Burgstraße, über den Theaterplatz, in den Nikolausberger Weg, den Kreuzbergring, den Düstere-Eichen-Weg bis in die Herzberger Landstraße. Die BewohnerInnen aller (linken) Häuser an dieser Strecke hätten somit verdächtigt werden können.

Im Nachhinein besagte ein Gutachten von Johann Fruth, Ausbildungsleiter der „Bayerischen Landespolizei für Diensthunde“ und bekannter Sachverständiger für Spürhunde, dem Einsatz sei „keine Bedeutung beizumessen, ebenso wenig wie der Interpretation eines möglichen Einsatzergebnisses durch die Hundeführer“. Erhebliche Bedenken am Erfolg der Spürhunde bekundet Fruth dadurch, dass die Hunde das „Nachrücken“ der Polizisten und des entsprechenden Kamerateams „als Bestätigung ihrer eingeschlagenen Richtung“ aufgefasst haben könnten.

Hausdurchsuchung in der Roten Straße

Nachdem also einer der Spürhunde sein Geschäft an einem Baum vor dem Haus der Roten Straße 1 verrichtet hatte, beantragte Göttingens Oberstaatsanwalt Hans Hugo Heimgärtner einen Durchsuchungsbefehl für dieses Haus für denselben Tag beim Göttinger Amtsgericht. Zwei Stunden später riegelten Beamte der Bereitschaftspolizei die Rote Straße ab und drangen in die linke Wohngemeinschaft der Roten Straße 1 ein.

Gesucht wurde nach vermeintlichen Hinweisen wie dunklen Jacken, Pappen und Kunststoffverpackungen, Klebstoffen und eventuellen Brandmitteln. Welche Zimmer durchsucht werden sollten, signalisierte abermals der mitgebrachte „Spürhund“: zwei Privatzimmer von BewohnerInnen und ein Gemeinschaftsraum. Bei der Durchsuchung wurden Laptops, PCs und weitere Datenträger beschlagnahmt. Später stellte sich heraus, dass die Polizei die Computer illegalerweise nach Namen von Rechtsanwälten untersuchte – wohl um Post von Verteidigern auszuspähen, was einer richterlichen Anordnung bedarf.

Als sie schon mal im Haus war, schlug die Polizei bei dieser Gelegenheit zwei Fliegen mit einer Klappe und durchsuchte noch die Räume eines jungen Mannes, der Graffiti gesprüht haben soll. Während der Durchsuchung wurden alle sich dort aufhaltenden Menschen in einem Raum eingesperrt, obwohl sie eigentlich als ZeugInnen in ihrem jeweils eigenen Zimmer anwesend sein dürfen. Somit ist nicht sicher, ob die Polizeibeamten Gegenstände in den Zimmern der BewohnerInnen deponiert haben, die sie später zur Belastung „heranziehen“ könnten.

Parallel zur stattfindenden Hausdurchsuchung sammelten sich 200 Menschen und solidarisierten sich mit den betroffenen BewohnerInnen. Die Polizei stellte sich derweil im Spalier vor einer Veranstaltung mit der Auschwitz-Überlebenden Esther Béjarano im Göttinger Alten Rathaus auf. Die Musikerin und Antifaschistin trat in der Nähe der Roten Straße anlässlich des Jahrestages zur Auschwitz-Befreiung am 27. Januar 1945 auf. Diese Provokation wurde getoppt durch einen Spalier-stehenden Polizeibeamten, der auf die Nachfrage, ob er nicht wisse, welches Datum sei und welche Symbolik mit ihrem Auftreten einherginge, antwortete: „Ich weiß nicht, welches Datum heute ist, ich komme nicht aus Göttingen.“

Es folgte eine spontane Solidaritätsdemonstration durch die Innenstadt, in deren Folge mehrere Geschäfte, Banken und die Innenstadtwache der Polizei angegriffen wurden und Glasbruch verursacht wurde. Auch in Hannover versammelten sich spontan 50 Menschen.

Solidaritätsdemonstration mit „Knalltrauma“

Am 30. Januar 2010 demonstrieren über 500 Menschen auf einer Solidaritätsdemonstration unter dem Motto „Linke Politik verteidigen – Gegen die Kriminalisierung antirassistischer Politik“. Der Verlauf der lauten und kämpferischen Demonstration war geprägt von Rangeleien und Konflikten mit dem bedrängenden Polizeispalier. Die Situation eskalierte kurz vor dem offiziellen Ende: Die Polizei zog ihr Spalier provozierend vor die Häuser in der Roten Straße. Als Teile der Demonstration die Einsatzkräfte von den Eingängen der linken Wohnprojekte nach mehrmaligen, unbeantwortet bleibenden Aufforderungen offensiv wegdrängten, wurde seitens der Polizei Schlagstöcke und Pfefferspray eingesetzt. Zahlreiche Menschen wurden verletzt, mindestens zwei Personen in Gewahrsam genommen.

Einer der beiden war Martin R., der den Bereitschaftspolizisten sicherlich aus zahlreichen Einsatzbesprechungen der letzten Tage bekannt gewesen sein dürfte. Für seine Ingewahrsamnahme musste an diesem Abend ein Knallkörper herhalten, den er innerhalb der Demonstration gezündet haben soll. Damit soll er bei einem Polizeibeamten ein „Knalltrauma“ verursacht haben. Der Polizist wurde deshalb in das Göttinger Universitätsklinikum eingeliefert. Laut seiner eigenen Aussage habe die Untersuchung jedoch ergeben, dass er „keine Schäden davon getragen“ habe. Können Polizeikräfte an Silvester überhaupt noch ihren Dienst ausführen? Und wie oft werden sie nach Gebrauch ihrer Schusswaffe ins Krankenhaus eingeliefert?

Das angebliche Zünden des Silvesterknallers durch Martin R. auf der Solidaritätsdemonstration wird von der Staatsanwaltschaft Göttingen zum Anlass genommen, eine DNA-Entnahme bei ihm anzuordnen. Denn nun wird offenbart, dass gegen Martin R. wegen „Herbeiführung einer Explosion“ im Göttinger Kreishaus ermittelt wird. Da es aber keine beweiskräftigen Anhaltspunkte dafür gibt, nutzen Polizei und Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen des Böllerwurfs, um damit DNA-Spuren zu vergleichen. Martin R. ist als linker Aktivist der Polizei schon länger ein Dorn im Auge, so dass es hierbei um konkrete Einschüchterung seiner Person geht. Offiziell wird er einzig und allein wegen seines „dunklen Teints“ mit der Verpuffung im Kreishaus in einen Zusammenhang gebracht, so dass auch ein rassistischer Unterton bei den Ermittlungen durchscheint.

Der „dunkle Teint“


Während der Ermittlungen und der Suche nach möglichen Tatverdächtigen wurden unter anderem Bänder der Überwachungskameras im Kreishaus ausgewertet. Eine „unbekannte Person“ betrat das Kreishaus und verließ dieses kurz darauf wieder. Die Person wurde von den Ermittlungsbehörden als „vermummt“ dargestellt, wobei die „Vermummung“ nie näher definiert wurde. Im Winter einen Schal zu tragen, evtl. auch etwas weiter übers Kinn gezogen, wurde nicht als Variante herangezogen. Vor dem Haus schwang sich diese Person für die ErmittlerInnen besonders markant auf ihr Fahrrad – nämlich von rechts!

Um den unbekannten Rechtsaufsteiger zu finden werden im März 2010 unglaubliche Energien und Ressourcen für die „Beweisaufnahme“ aufgewendet: Sechs Tage lang wird eine Hundertschaft damit beauftragt, zahlreiche Fahrradkontrollen in Göttingen durchzuführen, die einen Rechtsaufsteiger und somit die unbekannte Person ausfindig machen sollten.

Die vage Beschreibung einer Kreisverwaltungsangestellten sagte aus, sie wäre der verdächtigen, „vermummten“ Person im Kreishaus begegnet. Ihre Augenpartie habe einen „dunklen Teint“ vermuten lassen. Da die Polizei per se von einem „linksextremistischen Anschlag“ ausging, suchte sie sich den Göttinger Antifaschisten Martin R. aus – denn diesem kann ein „dunkler Teint“ zugewiesen werden. Neben ihm gerieten noch zwei andere Menschen unter Verdacht, da sie Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Kreishaus-Angestellte eingereicht hatten: ein gehbehinderter und ein 80-jähriger Mann.

Der Kreisverwaltungsangestellten wurde eigens ein Polizeizeichner aus Hannover beigeordert. Dieser Aufwand blieb erfolglos: Die Beschreibungen der Zeugin reichten nicht einmal für die Anfertigung eines Phantombildes aus. Nun wurden der Kreisverwaltungsangestellten mit dem selbst gelegten Verdacht auf Martin R. zwölf verschiedene Fotos von Augenpartien vorgelegt, einige mit und einige ohne dunklen Teint. Die entsprechenden Lichtbilder wurden sich rechtswidrig vom Göttinger Einwohnermeldeamt besorgt. Die Zeugin konnte zwar keine der Augenpartien identifizieren, aber ihr zu Folge könnten mehrere Augenpartien möglicher Weise die des „vermummten“ Mannes sein. Insgesamt konnte sie 5 der 12 Augenpartien nicht ausschließen. Da sich auch das Bild von Martin R. mit seinem „dunklen Teint“ unter den 5 nicht auszuschließenden verdächtigen Personen befand, reichte dies der Göttinger Polizei für weitere Ermittlungen aus. Die Polizei bat nun die Göttinger Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf längerfristige Observation zu stellen.

Es sollte festgestellt werden, ob der Beschuldigte Kontakt zu Bewohnern der Rote Straße 1 hatte und ob er möglicher Weise auch mit einem markanten Schwung von rechts auf sein Fahrrad aufsteigt. Die Staatsanwaltschaft lehnte den Antrag ab, weil kein Anfangsverdacht bestand.

„Knalltrauma“ & DNA-Abnahme

Wenig später leitete die Staatsanwaltschaft auf Grund des angeblichen Böllerwurfs ein Verfahren wegen „Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz“ und „Versuchter Körperverletzung“ ein. Martin R. soll außerdem einer Erkennungsdienstlichen (ED) Behandlung sowie einer DNA-Abnahme unterzogen werden. Das eingeleitete Verfahren stellt sich schnell als Vorwand der Ermittler in der Kreishaussache heraus. In der entsprechenden Akte findet sich eine Notiz, welche offenlegt, dass über ein Ermittlungsverfahren versucht werden soll, die DNA des Betroffenen zu bekommen. Ziel war es, diese mit dem Spurenträger, der schon „Quinzy“ und „Ella“ in die Rote Straße geführt haben soll, zu vergleichen.

Die DNA-Entnahme sollte noch vor der gerichtlichen Entscheidung im Hauptverfahren stattfinden. Versuche, die Entnahme über eine Klage beim Verfassungsgericht zu verhindern oder zumindest die Entscheidung im Hauptverfahren abzuwarten, scheiterte. Denn das Verfassungsgericht lehnte die Klage ohne Begründung ab.

Am 5.1.2011 sollte um 10 Uhr die DNA-Entnahme in der Göttinger Polizeiinspektion in der Jheringstraße stattfinden. Martin R. aber erschien ganz bewusst nicht zu diesem Termin. Über eine Pressemitteilung ließ seine Wohngemeinschaft verlauten, dass er sich seit mehreren Tagen nicht mehr an seinem Wohnort aufhalte.

Zwei Tage nachdem Martin R. untergetaucht war, ließ ihn die Staatsanwaltschaft zur bundesweiten Fahndung ausschreiben. Zwei Wochen nach der Ausschreibung, am 21. Januar 2011, klingelte die Polizei bei einer linken WG in Berlin-Wedding und suchte dort den Verdächtigten. Nachdem der Polizei mitgeteilt wurde, dass er sich dort nicht aufhalte, wollte die Polizei die Wohnung betreten. In der Tasche hatten die Berliner Beamten einen Durchsuchungsbefehl für den Wohnraum Martin R.s in Göttingen, nicht aber für die Berliner WG. Die Polizei hatte also einen Durchsuchungsbeschluss für den Wohnort des verfolgten Antifaschisten, „verzichtete“ aber darauf, erneut in die Rote Straße zu stürmen. Die mittlerweile sehr breite öffentliche Solidarisierung der Parteien DIE LINKE, Grüne und SPD von lokalen Gliederungen bis zur Ebene des niedersächsischen Landtags, sowie der ver.di-Jugend, VVN, studentischen Basisgruppen und Antifagruppen dürften hauptsächlich dazu beigetragen haben.

Die Antirepressions-Demo


Die Antifaschistische Linke International A.L.I. mobilisierte mit einem breiten Bündnis aus linksradikalen Gruppen, Parteien, Gewerkschaften und Einzelpersonen zu einer überregionalen Antirepressions-Demo am 22. Januar 2011 in Göttingen unter dem Motto „Betroffen ist eine/r, gemeint sind wir alle! Hände weg von linken AktivistInnen, Häusern und Strukturen!“. An dieser kämpferischen und lautstarken Antirepressions-Demonstration beteiligten sich etwa 700 Menschen. Das offensivste Moment kam von Martin R. selbst: in einem Redebeitrag meldete er sich zu Wort: „Ich bin wieder da!“ Er verkündete, von seiner Flucht aus dem Untergrund zurückgekehrt zu sein, in der Demo mit zu laufen und nunmehr sein gewöhnliches Leben in Göttingen weiter zu führen. Die Solidarität der Demonstrierenden machte es möglich, dass Martin R. von den Polizeikräften nicht aus der Demonstration gegriffen wurde, sondern bis zum Ende mitlaufen konnte. Das machte die Demonstration zu einem unglaublichen Erfolg und war trotz der insgesamt bedrohlichen und defensiven Situation ein Ausdruck von Stärke.

Diese Demonstration war neben den zahlreichen haltlosen Vorwürfen und rechtswidrigen Ermittlungsmethoden der Polizei ein weiteres konkretes Versuchsfeld aus dem Repressionskatalog Uwe Schünemanns. Was in Berlin längst zum Alltag gehört, soll nun auch in Göttingen eingeführt werden: eine eigene „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ (BFE), der sogenannte „Greiftrupp“. Uwe Schünemann verhandelt seit Dezember 2010 mit dem Bund über die Einrichtung dieser Spezialeinheit der Polizei in Göttingen, die Niedersachsens fünfte Einheit bilden soll.

Diese BFE wurde bei der Solidaritätsdemonstration am 22. Januar 2010 zum zweiten Mal in Göttingen eingesetzt. Besondere Härte zeigte sie durch wiederholtes großflächiges Versprühen von Pfefferspray und direkt darauf folgendes Einsetzen von Schlagstöcken gegen die Demonstration, wie z.B. auf einer Brücke in der Goetheallee. Auf dieser Brücke attackierte die BFE auch einen Fotografen des Göttinger Tageblatts und einen Pfarrer. Mindestens 25 Menschen wurden durch diesen Einsatz der Polizei verletzt. Trotz dieses Versuchs die Demonstration aufzuhalten bzw. zu zerschlagen, zog sie geschlossen lautstark und kraftvoll weiter.

Tag X

Am Freitag, den 28. Januar 2011, entschied sich dann der betroffene Antifaschist, die von ihm geforderte DNA abzugeben. Gemeinsam mit Angehörigen der Presse, UnterstützerInnen von SPD, Grünen und DIE LINKE sowie seinem Anwalt begab er sich zur Polizeiwache. So bestimmte er zumindest den Zeitpunkt der Abnahme seiner DNA selbst und konnte dies unter einer breiten öffentlichen Aufmerksamkeit und mit solidarischer Unterstützung durchführen. In einer persönlichen Erklärung bedankte sich Martin R.: „In den letzten Wochen habe ich eine Menge Unterstützung und Solidarität erfahren, die mir viel Kraft gegeben hat. Ich möchte mich bei all denjenigen bedanken, die das alles möglich gemacht haben.“

In den Abendstunden desselben Tages versammelten sich über 300 UnterstützerInnen am Gänseliesel. In einem Redebeitrag erklärte ein Sprecher das Geschehen des Vormittags. „Wir sind heute hier, um unsere Wut auf die Straße zu tragen“, hieß es. Und weiter: „Jeder Angriff auf einen oder eine von uns ist ein Angriff auf uns alle! Kein Angriff bleibt unbeantwortet!“. In einer wütenden Demonstration zog die Menge unangemeldet durch die Stadt, zahlreiche Feuerwerkskörper wurden gezündet, Baustellenabsperrungen und Müllcontainer auf die Straßen gezerrt. Da am selben Tag nach 10 Jahren endlich wieder ein linker AStA gewählt wurde, zog die Demonstration zum Uni-Campus, von dem die Polizei durch die Demo vertrieben wurde. Auch fiel ein Kameramann der Polizei in die Wasseranlagen vor der Unibibliothek. Im Bereich der Goßlerstraße wurde ein Einsatzfahrzeug der Polizei mit Steinen attackiert. Als Vermummte sich mit Steinen ausgerüstet einem weiteren Einsatzfahrzeug näherten, floh dieses mit quietschenden Reifen. Die Demo endete schließlich ohne Festnahmen wieder in der Innenstadt.

Der Prozess

Der erste Prozesstag gegen Martin R. am 16. Juni 2011 begann vor dem Amtsgericht Göttingen turbulent: Gleich drei Schulklassen wurden mit Einlasskarten versehen und bereits eine halbe Stunde vor Prozessbeginn in das Gebäude geleitet, um sodann alle Plätze der „öffentlichen Verhandlung“ zu besetzen. Außerdem mischten sich mehrere Beamte der politischen Polizei in Zivil unter die ZuschauerInnen. Die zahlreichen FreundInnen, Familienangehörigen und GenossInnen des Angeklagten wurden derweil in einer aufwendigen Einlasskontrolle beschäftigt. Als sie endlich in den vollbesetzten Saal gelangten, mussten sie sich Sitzplätze durch verbale Streitereien mit der Richterin erkämpfen. Einige GenossInnen wurden sogar des Saals verwiesen.

Der Prozess endete am zweiten Verhandlungstag, den 4. Juli 2011, mit einem Freispruch für Martin R. Keiner der vier Polizeizeugen konnte schildern, ob und wie der Beschuldigte einen Silvesterknaller gezündet haben soll.

Im Anschluss an den Freispruch ließ Oberstaatsanwalt Hans Hugo Heimgärtner öffentlich in der Presse verlauten, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Der Beschuldigte sei „zu Unrecht freigesprochen“ worden, so sein Kommentar. Martin R. und sein Rechtsanwalt erfahren von der Berufung zunächst nur durch die Presse.

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Staatsterrorismus stoppen!

Der niedersächsische Verfassungsschutzpräsident Hans Wargel hatte sein neues Büro in Hannover kaum bezogen, da lieferten ihm seine Göttinger Kollegen eine Steilvorlage. Auf die Marschrichtung der Polizeipressestelle, bei der Verpuffung im Kreishaus müsse es sich um einen „linksextremen Anschlag“ handeln, setzte er noch einen drauf. In Göttingen sei seinen Angaben aus einem NDR-Interview von Januar 2010 zufolge „die Schwelle zum Terrorismus“ erreicht worden. Linker Anschlag? Terrorismus? Das Verfassungsschutzpolizei-Duo Wargel-Kruse sowie ihr Chef Schünemann sind der Öffentlichkeit bisher jegliche Beweise schuldig.

Ein Blick auf die Umstände des Vorfalls im Kreishaus-Gebäude am 27.1.2010 lassen keine Beteiligung von linken AktivistInnen erkennen: In den Medien der radikalen Linken wird seit jeher ausgiebig über linke Militanz diskutiert. In den letzten Jahren findet in den Zeitschriften interim und radikal eine regelrechte Militanz-Debatte statt. Für linke Gruppen, die zum Angriff gegen den Staat und das Kapital übergehen, sind diese Debatten wichtige Orientierungspunkte. Zu den zentralen Aussagen dieser Diskussionen zählt, dass dem Leben von Menschen ein hoher Wert beigemessen wird. Nach gegenwärtigem Diskussionsstand wird auch das Leben von ausgemachten GegnerInnen nicht in Frage gestellt. Es ist kein Zufall, dass seit vielen Jahren weder Neonazis, noch Abschieberichter oder ähnliche Menschenjäger um ihr Leben fürchten mussten. Auch die Gesundheit von unbeteiligten Menschen darf innerhalb dieser Ethik unter keinen Umständen gefährdet werden.

Ein anderer Bezugspunkt innerhalb dieser Militanz-Debatten ist die Vermittelbarkeit. Auch unbeteiligten Menschen sollte sich erschließen können, warum und mit welchen Mitteln ein bestimmtes Ziel angegriffen wurde. In der Regel gehört dazu die Kommentierung durch ein ausführliches BekennerInnenschreiben. Durch solch ein Schreiben würde genau erläutert, was für ein Anschlag durchgeführt wurde und welche politische Botschaft damit vermittelt werden sollte.

Schon auf den ersten Blick treffen auf den Vorfall im Kreishaus keine dieser Kriterien zu. Ganz im Gegenteil: Ein unkontrolliertes Feuer in einem Verwaltungsgebäude während der Öffnungszeiten, würde MitarbeiterInnen wie BesucherInnen gleichermaßen in Gefahr bringen.

In den Wochen vor der Verpuffung in der Kreishaus-Teeküche haben in und um das Verwaltungsgebäude öffentliche Proteste gegen die Schikanierung und drohende Abschiebung von Flüchtlingen stattgefunden. Einen im Treppenhaus zurückgelassenen Pappkarton mit der Aufschrift „Abschiebe Stopp“ nun der linken Szene als BekennerInneschreiben unterzuschieben, kann auch nur jenen einfallen, die in dieser Art „Terror“ bestens ausgebildet sind.

Die radikale Linke wie auch die kritische Öffentlichkeit tun gut daran, die Anschuldigungen von Schünemann, Wargel und Kruse zurückzuweisen. Dabei geht es nicht um öffentliche Distanzierungen von „Gewalt und Extremismus“ wie es die Stadtratsfraktionen bis hin zu den Grünen und im Kreistag gar bis zur Partei DIE LINKE vollzogen haben. Es geht darum, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht von einem extrem rechten Innenminister mit seinen Geheimdienstpolizeichefs durch die Stadt jagen zu lassen. Es geht darum, aus der politischen Defensive zurück in die Offensive zu kommen.

Wer wissen will, was im Kreishaus wirklich geschah, kann sich nicht auf die Polizei verlassen. Wer wissen will, wer das Feuer im Afro-Shop am Ritterplan gelegt hat, was am Södderich bei Waake geschah, wer den Gemüseladen in Northeim niedergebrannt hat, muss kritische Fragen stellen, in Kontakt mit den Betroffenen treten und letztendlich eigene Recherchen anstellen.

Antifaschistische Linke International A.L.I. im Januar 2012