Explosive Entschleunigung

Bahn-Knotenpunkt Berlin: „Die Stadt hält den Atem an“
Erstveröffentlicht: 
17.10.2011

Die Anschlagsserie auf Bahnstrecken befeuert die Debatte um linke Gewalt. Verfassungsschützer registrieren seit Monaten, dass sich die Szene radikalisiert.

 

Die „unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung“, so notierten die Fahnder, war in einem Kabelschacht neben dem Gleisbett versteckt – am Bahnkilometer 24,6, zwischen den brandenburgischen Bahnhöfen Brieselang und Finkenkrug. Sie zündete am Montag vergangener Woche gegen 3.45 Uhr und sorgte für einen Großeinsatz von Ermittlern, Feuerwehrleuten und der Entschärfergruppe der Bundespolizei. Und sie war nicht die einzige. 

 

In einer konzertierten Aktion hatten unbekannte Täter im Bahnnetz an insgesamt neun Stellen rund um die Hauptstadt weitere mit batteriegetriebenen Zeitzündern ausgestattete Benzinbehälter deponiert. In zwischen ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts der „verfassungsfeindlichen Sabotage“; die Bahn hat eine Belohnung von 100000 Euro ausgelobt. Auch wenn 16 der 18 bislang entdeckten Feuerflaschen nicht explodiert waren – offenbar waren die Streichholzköpfe im Zündmechanismus nass geworden –, entbrannte eine hitzige Debatte um linke Gewalt. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe nannte die Anschläge einen „dramatischen Weckruf“ für die Demokratie, Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) sprach von „verbrecherischen, terroristischen Ansätzen einer neuen Dimension“.

 

Bei den Tätern, sagt der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der Hesse Boris Rhein (CDU), handle es sich um „verantwortungslose Fanatiker und Kriminelle, die Bahn-Kunden als Geiseln nehmen und unschuldige Menschenleben gefährden“. An diesem Donnerstag wollen Rhein und seine Kollegen aus Bund und Ländern in einer Telefonkonferenz über die Lage beraten.

 

Bereits im April hatte der Verfassungsschutz einen rapiden Anstieg linksextremer Straftaten registriert. Im ersten Quartal 2011, so steht es in einem vertraulichen Lagebild, sei die Zahl der Delikte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 39 Prozent auf 2042 gestiegen, die Zahl der Gewalttaten sogar um 68 Prozent, auf 426. Eine „terroristische Dimension“ sei zwar nicht erreicht, gleichwohl werde mit einer weiteren Radikalisierung gerechnet. „Die Sicherheitslage“, so das Fazit der Verfassungsschützer, habe sich „merklich verschärft“ (SPIEGEL 23/2011).

 

Die Prognose sollte sich nur wenige Wochen später bewahrheiten. In der Nacht zum 23. Mai legten Unbekannte Feuer an einer Kabelbrücke des Berliner S-Bahn-Knotenpunkts Ostkreuz und richteten erheblichen Sachschaden an. Der Anschlag, der Signalleitungen der Bahnlahmlegte und den Schienennahverkehr der Hauptstadt zeitweise zum Stillstand brachte, markierte neben einer neuen technischen Qualität auch einen Wandel im Begründungsmuster der Täter.

 

In einem Bekennerschreiben bemühten die Brandstifter eher philosophische Argumente gemischt mit vulgärmarxistischer Kapitalismuskritik. Man habe die „Mobilität“ der Metropole treffen wollen, um dadurch den „zerstörerischen Trott“ einer „mörderischen Normalität“ des „Arbeitens, des Konsumierens, des Buckelns“ zu sabotieren. Energiekonzerne, Waffen und ihre Transportwege müssten „zerschlagen“ werden. Anders als einst die Attentäter der RAF, die gezielt einzelne Funktionsträger des verhassten Staats ermordeten, hat sich die neue militante Linke offenbar auf die Infrastruktur der globalisierten Gesellschaft eingeschossen.

 

Staatsschützer vermuten eine Verbindung zwischen dem Anschlag im Mai und den neuerlichen Brandstiftungen. In der Tat gleicht das Bekennerschreiben, das am vergangenen Montag ins Internet gestellt wurde, verblüffend der Selbstbezichtigung nach der Ostkreuz-Attacke im Mai – vom Stil her klingt es mehr nach Feuilleton als nach Flugblatt.

 

Schon der Name der Gruppe („Hekla-Empfangskomitee – Initiative für mehr gesellschaftliche Eruptionen“), die sich zu der Aktion bekannte, erinnert eher an anarchische Künstlergruppen aus den sechziger Jahren als an Polit-Kriminelle des Internetzeitalters. Auch der Text hat wenig von der bislang von deutschen Linksextremisten gewählten spitzfindigen Pamphlet-Prosa. 

 

„Die Stadt hält den Atem an, verlangsamt ihr Tempo, vielleicht hält sie inne“, heißt es in dem Schreiben. Man habe die „Metropole in einem bescheidenen Umfang in den Pausenmodus umgeschaltet“. Neu ist auch, dass die über „Entschleunigung“ philosophierenden Täter Selbstzweifel zeigen. Andere könnten ihre Aktionen „als Werk terroristischer Idioten“ empfinden, dabei seien die Gleisattacken eben nicht darauf ausgerichtet, „eine breite Zustimmung zur Störung des Alltags zu erheischen“. Derartige Dialektik orientiert sich offenbar an einer Streitschrift aus dem Jahr 2007, die inzwischen bei vielen Linken in Europa Kultstatus hat („Der kommende Aufstand“). Sie ist 89 Seiten lang und kommt aus Frankreich. Die Autoren, die sich hinter dem Pseudonym „Unsichtbares Komitee“ verbergen, zeichnen in düsterer, aber präziser und streckenweise fast poetischer Sprache das Bild eines nicht reformfähigen Gesellschaftssystems.

 

Eine „Ästhetik des Widerstands für das neue Jahrtausend“ nannte die „Süddeutsche Zeitung“ das Heft, das sich mitunter wie eine intellektuelle Gebrauchsanweisung für die jüngsten Brandanschläge liest. Die kapitalistische Gesellschaft, so heißt es da, lasse sich am besten bekämpfen, indem man ihre Infrastruktur lahmlege. „Die soziale Maschine mit einiger Auswirkung zu sabotieren“, resümieren die Urheber des Manifests, „bedeutet heutzutage, sich die Mittel zur Unterbrechung ihrer Netze wieder anzueignen und neu zu erfinden.“ Für militante Aktivisten, die sich derartige Strategien zu eigen machen, kämen somit nicht nur Bahngleise als Anschlagsziele in Betracht – sondern auch Handy- und Computernetze, Stromversorgungen oder Autobahnen. 

 

2007, das Jahr, in dem „Der Kommende Aufstand“ erschien, markiert für den Verfassungsschutz eine „Zäsur in der Entwicklung des deutschen Linksextremismus“, wie es in einer vertraulichen Analyse heißt. Besonders die Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm hätten zu einer Eskalation geführt. Der militanten Linken, so das Geheimdienstpapier, sei es gelungen, über das eigene Milieu hinaus attraktiv zu werden. 

 

Der harte Kern weist vor allem zwei soziologische Merkmale auf: Nach Auswertung von 767 Personaldaten, die der Verfassungsschutz in einer neu eingerichteten Datei („Gewaltbereite Linksextremisten“) gespeichert hat, sind 65 Prozent der aktiven militanten Autonomen jünger als 26 und zu 84 Prozent männlich. Derzeit ist die linke Szene so selbstbewusst, dass sie offen über heimliche Aktionen diskutiert. So bekannten sich Teilnehmer eines „Kongresses für autonome Politik“ im Juni in Köln zur „Einübung und Ausübung“ von „emanzipativer“ Gewalt. Der Programmpunkt lautete: „Militanz – wir stehen dazu“. 

 

Die mutmaßlichen Bahn-Attentäter  sahen sich genötigt, am vergangenen Donnerstag noch einmal öffentlich nachzulegen. Offenbar aufgeschreckt von der reflexartig entbrannten Terrorismus-Debatte („Bild“: „Droht uns jetzt eine neue RAF?“), beteuerten sie erneut, keine Menschen gefährden zu wollen. Jeder Bahn-Experte würde bestätigen, dass Kabelbrände „nicht zu Zugentgleisungen oder Ähnlichem führen“ könnten. Tatsächlich, sagt Gerd Neubeck, Leiter der Konzernsicherheit der Bahn, würden „bei einem Schaden im Leitsystem alle Signale auf Rot geschaltet und der Verkehr gestoppt“. Ermittler geben allerdings zu bedenken, dass manche Züge einen langen Bremsweg haben – von bis zu eineinhalb Kilometern.

 

Sven Röbel, Jörg Schmitt, Andreas Wassermann