Wir haben in letzter Zeit mehrmals auf die anhaltenden Streiks und sozialen Kämpfe in Ägypten hingewiesen, über die (mit guten Grund…?) in den deutschen Medien kaum berichtet wird. Grosse Teile der Wirtschaft werden vom Militär kontrolliert, das war schon unter Mubarak so. Das erklärt u.a. die Härte, mit der mithilfe der Notstandsgesetze gegen die Streikenden vorgegangen wird. Einen sehr guten Überblick über die aktuelle Situation und die Entwicklung der Organisierung der „Klasse“ bietet der folgende Artikel von Juliane Schumacher, erscheinen in der jungle world:
Nun also die Fahrer von Kleinbussen und der Metro sowie die Angestellten des öffentlichen Transportsystems – seit Mitte September sind sie im Streik, manche haben aus Protest aufgehört zu essen, am Samstag ist der erste Mitarbeiter an den Folgen des Hungerstreiks gestorben. Seine Mitstreiter setzten ihren Protest heftiger als zuvor fort: Während das Militär am Samstag noch gewaltsam gegen Protestierende vorging, die nach der Demonstration am Vortag auf dem Tahrir-Platz geblieben waren, besetzten sie wenige hundert Meter weiter die Qasr-al-Nil-Straße, eine der wichtigsten Verkehrsstraßen der Kairoer Innenstadt, und begannen eine Sitzblockade vor dem dortigen Sitz des Premierministers.
Das Militär griff nach einigen Stunden ein, verhaftete mehrere Dutzend Arbeiter und eine Bloggerin, die das Geschehen gefilmt hatte. Sie kam, im Gegensatz zu den Arbeitern, nach wenigen Stunden wieder frei. Ein Bild der Proteste fand am Abend dennoch seinen Weg auf die Facebook-Seiten: Reihen von festgenommenen Arbeitern, die Hände auf den Rücken gebunden, drei Menschen liegen gekrümmt vor ihnen, während ihnen Soldaten offenbar Tritte versetzen. »Nein, das sind keine israelischen Soldaten, die Palästinenser festnehmen«, hat im Netz jemand das Bild kommentiert. »Das sind ägyptische Soldaten, die Ägypter festnehmen!«
Die Transportarbeiter sind nicht die einzigen, die einen Arbeitskampf führen. Seit Anfang September hat eine große Streikwelle Ägypten erfasst, im Ausstand befinden sich unter anderem die Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt, Arbeiter zahlreicher Fabriken und die Flughafenangestellten. Insbesondere drei Gruppen stürzen das Land derzeit in Unruhe: Rund die Hälfte der 1,5 Millionen Lehrer sind seit dem 17. September im Streik, landesweit fällt in den meisten Bezirken die Schule aus. Die Ärzte der staatlichen Krankenhäuser streiken erneut, in Kairo ist die Beteiligung weniger groß, in Alexandria erreicht sie nach Angaben der staatlich gelenkten Zeitung al-Ahram 70, in Suez 100 Prozent.
Ihre Forderungen sind dieselben wie die der Transportarbeiter: 200 Prozent Lohnerhöhung, Rücktritt des zuständigen Ministers, unbefristete Verträge statt Kurzzeitanstellung. An den Universitäten streiken Dozenten, teils auch Studierende, sie fordern wie schon seit Monaten den Rücktritt der Dekane, die noch vom alten Regime eingesetzt wurden. Die Streiks hatten sich rasch ausgeweitet, als am 9. September der Angriff auf die israelische Botschaft das Land erschütterte – und die Militärregierung die Notstandsgesetze wieder einführte, die willkürliche Verhaftungen und Schnellverurteilungen erlauben.
Was diese Maßnahme bedeutet, erklärte Innenminister Mansour al-Essawy am nächsten Tag in einem Fernsehinterview. Die Notstandsgesetze richteten sich gegen »alle, die mit Waffen handeln oder Waffen besitzen, mit Drogen handeln oder Drogen besitzen«, aber auch gegen jene, »die die Arbeit niederlegen, Straßen blockieren und so dem Land schaden«.
Das ist im Grunde nichts Neues. Seit das Militär im Februar 2011 in Ägypten die Macht übernommen hat, ist es hart gegen Protestierende vorgegangen – und noch härter gegen Streikende. Vom ersten Moment an hat es versucht zu verhindern, dass die Revolution der Anlass wird, die heftigen Streiks wieder aufflammen zu lassen, die erst zwei Monate vor der Revolution zu einem vorläufigen Ende gekommen waren. 2006 hatte ein Arbeitskampf in einer staatlichen Textilfabrik in der Industriestadt Mahalla eine bis dahin beispiellose Anzahl von Streiks nach sich gezogen. Dass im ersten Arbeitskampf im Dezember 2006 fast alle Forderungen durchgesetzt wurden, nicht nur die ökonomischen, sondern auch die nach Gründung einer neuen Vertretung, diente Angestellten und Arbeitern landesweit als Beispiel.
Einen Höhepunkt bildeten die Streiks im April 2008, die ebenfalls in Mahalla stattfanden und schließlich von der Polizei blutig niedergeschlagen wurden. Dies war der Anlass für die Gründung der »Bewegung 6. April«, die eine wichtige Rolle in der Revolution gespielt hat. Die Revolution im Januar und Februar 2011 war zunächst weniger von Arbeitern oder Angestellten als vielmehr vor allem von jungen, häufig prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, Schülern und Studenten getragen worden.
In regulären Arbeitsverhältnissen ist nur ein Bruchteil der Ägypter beschäftigt. Rund die Hälfte der Menschen arbeitet weiterhin in der Landwirtschaft. Von denen, die ihren Lebenunterhalt auf andere Art verdienen, ist mindestens die Hälfte im informellen Sektor tätig. Der größte Teil der Festangestellten arbeitet für den Staat, im Verwaltungsapparat, in staatlichen oder halbstaatlichen Betrieben oder beim Militär. Das Militär ist der wichtigste »Großkapitalist« Ägyptens, es kontrolliert je nach Schätzung ein Viertel bis die Hälfte der Wirtschaft, genaue Zahlen gibt es nicht.
Das ist der Grund dafür, dass der Druck auf die Regierung Mubarak so stark zunahm, als sich in den letzten Tagen der Revolution schließlich Arbeiter und Angestellte den Protesten anschlossen und massenweise im ganzen Land in den Ausstand traten. »Ohne die Streiks hätte Mubarak eine Chance gehabt, mit den Protesten fertig zu werden«, sagt Jano Charbel, ein Journalist, der zur Arbeiterbewegung in Ägypten recherchiert. »Nicht ewig – aber er hätte die sechs Monate bis zum Ende seiner Amtszeit durchhalten und dann seinen Sohn Gamal als Nachfolger einsetzen können. Die Streiks haben am Ende den Ausschlag gegeben.«
Die Versuche der Generäle scheiterten, die Streiks, die sie selbst wirtschaftlich empfindlich trafen, möglichst schnell zu beenden. Vom ersten Moment an griff die Militärpolizei bei Streiks hart ein, zahllose Arbeiter wurden vor Militärgerichte gestellt und teils zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ende März beschloss die vom Militär eingesetzte Übergangsregierung ein Gesetz gegen Streiks und Proteste. Es verbietet jede Art von Streik oder Protest, »der das reibungslose Funktionieren von Ökonomie oder öffentlicher Ordnung beeinträchtigt«, und sieht bereits für den Aufruf zu solchen Aktionen Strafen von bis zu ein Jahr Haft vor.
Die abschreckende Wirkung, die sich die Regierung erhofft hatte, trat nicht ein. Das Gesetz wurde zunächst auch nur selten angewandt, im Mai wurden zum ersten Mal Arbeiter unter Berufung auf die neuen Vorschriften verurteilt. Zumeist bedienten sich die Generäle schlichter Militärtribunale, die ohne jedes rechtliche Verfahren hohe Strafen verhängen können. Die Streik- und Organisierungswelle, die durch die Politisierung während der Revolution angestoßen wurde, hielt das nicht auf.
Vor der Revolution existierten gerade einmal vier unabhängige Gewerkschaften, die in den Jahren zuvor gegründet worden waren – derzeit gibt es mehr als 200. Auch zuvor war der gewerkschaftliche Organisierungsgrad hoch, die Staatsgewerkschaft ETUF (Egyptian Trade Union Federation) war jedoch ein Instrument von Mubaraks Staatspartei NDP. Von den letzten Wahlen der Gewerkschaftsvertretungen im Herbst 2006 wurden Tausende unerwünschter Kandidaten ausgeschlossen.
Die neuen unabhängigen Gewerkschaften haben sich nun ebenfalls zu einem Dachverband zusammengeschlossen. Anfang August hat die Regierung einige Verordnungen beschlossen, der neue Verband soll anerkannt und das Monopol der ETUF gebrochen werden. Am 4. August löste das Kabinett per Dekret den Vorsitz der ETUF auf, am 19. August kündigte der Arbeitsminister an, das neue Gewerkschaftsgesetz werde in wenigen Tagen beschlossen. Es soll das Gesetz von 1976 ersetzen und im Unterschied zu diesem die Gründung unabhängiger Gewerkschaften erlauben.
Doch bislang wurde das Gesetz nicht verabschiedet. Offenbar wird es vom Militärrat blockiert, der jedem Gesetz zustimmen muss. Während sich alte und neue Verbände nun einen Steit um das Vermögen der ETUF liefern, zu dem Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Immobilien gehören, bringt die Unsicherheit bezüglich der juristischen Grundlagen die neuen Gewerkschaften in Bedrängnis. Sollte das neue Gesetz unbekannte Klauseln enthalten, könnten sie alle von einem Tag auf den anderen illegal sein. Und sollte die Verabschiedung des Gesetzes weiter verzögert werden, könnte die ETUF bei den anstehenden Wahlen der Gewerkschaftsräte im Herbst ihre Macht zurückgewinnen.
Bis dahin geht der Kampf auf der Straße, in den Büros, Schulen und Fabriken weiter. Das Inkrafttreten des Notstandsgesetzes hat die Bewegung keinesfalls geschwächt, im Gegenteil. Seither sind weitere Gruppen in den Streik getreten oder haben ihren Forderungen die nach der Aufhebung des Ausnahmezustands hinzugefügt. Die Vereinigung der politischen Bewegung, die auf dem Tahrir-Platz weiterhin demonstriert, mit den streikenden Arbeitern und Staatsangestellten ist bisher nie vollständig gelungen. Häufig liefen ihre Proteste eher parallel, und die Forderungen der Streikenden blieben auf Lohnerhöhungen beschränkt. Doch der Militärrat hat eine Politisierung erzwungen. Seit sich die Notstandsgesetze offiziell auch gegen Arbeitskämpfe richten, ist jeder Streik ein Protest gegen die autoritären Verhältnisse.