In
Strasbourg und Kehl haben heute Zehntausende von Menschen gegen den
NATO-Gipfel demonstriert. Eigentlich sollte sich eine aus Kehl kommende
Demonstration auf der französischen Seite mit der dortigen
Großdemonstration vereinen, aber französische und deutsche Polizei
sperrte die Grenzübergänge- Zugleich provozierten die Sicherheitskräfte
seit den Morgenstunden in martialischer Aufmachung die Masse der
Demonstranten und gingen brutal gegen alle Versuche vor, den Gipfel zu
blockieren. Dutzende Menschen wurden teilweise schwer verletzt.
Einem Bericht von »Linke Zeitung« zufolge setzten sich
Tausende Demonstranten kollektiv gegen Wasserwerfereinsätze und den
Beschuss mit Gummi- und Blendschockgeschossen durch die Polizei zur
Wehr. Mehrere Lautsprecherwagen für die Demo wurden von der
französischen Polizei an der Anreise gehindert und Personen, die in die
Protestvorbereitungen involviert sind, an der deutsch-französischen
Grenze abgewiesen. Aus Hubschraubern schossen französische
Sicherheitskräfte Tränengas auf die Demonstranten.
Ein Sprecher
des Antikapitalistischen Blocks erklärte: »In Strasbourg und Kehl
erleben wir in diesen Stunden eine neue Stufe polizeilicher Gewalt. Wir
werden trotz allem versuchen, die Demonstration mit unserem Block in
die Innenstadt von Strasbourg zu führen. Wir wollen die
NATO-Kriegsstrategen direkt mit unserem Protest konfrontieren. Das
internationale Bündnis zur Vorbereitung der Proteste wird sich nicht
spalten lassen.
Die Welt soll ruhig sehen, wie in angeblich
demokratischen Ländern, die ihre Demokratie zum Exportmodell erklären,
mit Massenprotesten umgegangen wird. Wir freuen uns, dass heute
Zehntausende gekommen sind und sich von der Stimmungsmache der Behörden
nicht haben abschrecken lassen. Die Sicherheitsorgane proben den Krieg
gegen unliebsamen Protest. Sie tragen die Hauptverantwortung für das,
was derzeit in Strasbourg und Kehl geschieht. Dass die Demonstranten
sich nicht wehrlos der brutalen Staatsgewalt aussetzen lassen, dürfte
wohl logisch sein.«
Das äußerte sich auch in Gewalt. Eine
Tourismus-Information, ein Hotel und ein früherer Grenzkontrollposten
gingen in Flammen auf. Für die Polizei der perfekte Vorwand, um die
viele Tausend Menschen starke Friedensdemonstration aus Kehl nicht die
Grenze nach Frankreich passieren zu lassen. Stundenlang warten die
Demonstranten, auch Vermittlungsversuche des
Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele mit der Polizei
fruchten nicht. Aber trotzdem lassen sich die Demonstranten nicht
provozieren - und sogar die Polizei muss eingestehen, dass sie hier
keinen Randalierern das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit nimmt.
Auf
französischer Seite wird der dortige Demonstrationszug, der ohnehin
pausenlos provoziert wird, von der Polizei an einer Brücke über den
Petit Rhin, einen Arm des Rheins in Strasbourg, von der Polizei
blockiert. Kurz darauf setzt die französische Polizei erneut Tränengas-
und Schockgranaten ein. Wieder setzt sich der Zug in Bewegung, bis er
an einem Bahnübergang wieder von der Polizei gestoppt wird. Zufall?
Hier finden die Vermummten haufenweise Steine, zu Dutzenden gehen diese
auf die Polizei nieder, melden Medien.
Aber wer sind die
Vermummten? Sicherlich auch wütende Demonstranten, denen angesichts
tagelanger Provokationen der Kragen geplatzt ist. Aber sonst? Indymedia
meldet um 16.20 Uhr, dass in der Rue d'Algier 20 zivile Polizeiwagen
gesehen wurden, in denen die eine Hälfte der Insassen uniformierte
Polizisten, die andere Hälfte aber als »schwarzer Block« verkleidet war.
Reiner
Braun von der internationalen JuristInnen-Vereinigung IALANA
kommentierte die Auseinandersetzungen gegenüber der Tageszeitung »junge
Welt« mit den Worten: »Die Repressionen und die Dimensionen des
Polizeieinsatzes haben deutlich gemacht, daß eine aggressive Politik
nach außen auch eine aggressive Politik nach innen bedingt. Wir hatten
es mit einer wochenlangen provokativen Vorbereitung seitens der
Behörden zu tun. Auch heute gingen die Aggressionen eindeutig
ursächlich von der Polizei aus.«
Laut einem Bericht auf der
Internetseite der französischen Tageszeitung »L'Express« sagte die
Nationalsekretärin der Französischen Kommunistischen Partei,
Marie-George Buffet: »Die deutschen Pazifisten wurden an der Grenze
blockiert und die Provokateure kamen durch. Wenn die Behörden die
Kundgebung in Ruhe hätten stattfinden lassen, wäre sie gut verlaufen
und man hätte heute Abend Bilder des Friedens. Stattdessen hat man
Bilder des Krieges.«
Eigentlich passend zu dem zeitgleich
stattfindenden Treffen der Regierungschefs des Kriegsbündnisses NATO.
Knut Mellenthin kommentiert die Ergebnisse dieser Tagung für »junge
Welt«:
Wenn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, unterstützt
von Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy, sich nicht darauf
versteift hätte, ihren Wunschkandidaten für den Posten des
NATO-Generalsekretärs unbedingt noch während des Gipfeltreffens in
Strasbourg durchzusetzen, wäre die Jubiläumsfeier der westlichen
Allianz wohl ohne Highlight zu Ende gegangen. So aber sorgte das
zweitägige Tauziehen um den dänischen Premier Anders Fogh Rasmussen
wenigstens für etwas scheinbare Dramatik während der ansonsten völlig
auf Konsens abgestellten Tagung.
Zwar waren von den 28
Mitgliedsstaaten der NATO 27 für den Dänen oder hätten um dessen
Kandidatur für die Nachfolge von Jaap de Hoop Scheffer sicher keinen
Streit angefangen. Aber da der Beschluss einstimmig gefasst werden
musste, blockierte das türkische Nein die Wahl Rasmussens. Die
Regierung in Ankara kreidet ihm an, dass er sich vor drei Jahren
schützend vor ein rechtes Blatt stellte, das anti-islamische
Karikaturen veröffentlich hatte. Damit wäre der Däne in der islamischen
Welt eine schwere Belastung für die NATO, argumentierte der türkische
Regierungschef Tayyip Erdogan. Darüber hinaus nimmt man Rasmussen in
Ankara übel, dass er der Forderung nach Schließung eines kurdischen
Senders nicht nachgekommen ist und dass er zur Front gegen den
EU-Beitritt der Türkei gehört.
Anders als Merkel wäre die
Mehrheit der Teilnehmer geneigt gewesen, die Wahl zu verschieben, da de
Hoop Scheffer ohnehin noch bis zum Juli im Amt ist, also kein Zeitdruck
bestand. Am Ende war es Barack Obama, der Erdogan mit Zusicherungen,
über deren Inhalt bisher nichts bekannt ist, zur Aufgabe seines Veto
überredete. Der US-Präsident bewahrte die Kanzlerin damit vor einer
peinlichen politischen Niederlage.
Die »neue Strategie« der
US-Regierung für Afghanistan und Pakistan, die Obama schon vor einer
Woche bekannt gegeben hatte, wurde auf dem NATO-Gipfel einmütig mit Lob
überschüttet. Dass damit nicht nur eine militärische Eskalation in
Afghanistan verbunden ist, sondern auch eine in ihren Folgen völlig
unüberschaubare und jedenfalls hochexplosive Ausdehnung des
NATO-Krieges auf Pakistan, rief anscheinend keinerlei Widerspruch
hervor. Das Thema wurde, soweit bekannt, nicht einmal diskutiert.
Andererseits
zeigten die europäischen Bündnispartner allesamt wenig Neigung, für
diesen Krieg, in dem angeblich die Existenz der Allianz auf dem Spiel
steht, mehr Soldaten zur Verfügung zu stellen. Die US-Regierung hatte
schon im Vorfeld öffentlich versichert, dass es darum beim
Gipfeltreffen auch gar nicht gehen werde.
Herausgekommen ist
schließlich, dass alle europäischen Staaten zusammen ungefähr 5000
Soldaten zusätzlich nach Afghanistan schicken werden. Davon werden 3000
zeitlich befristet zur Absicherung der Präsidentenwahl im August
eingesetzt. Zwischen 1400 und 2000 Militärangehörige sollen
Ausbildungsaufgaben für die Streitkräfte und die Polizei Afghanistans
übernehmen. Großbritannien wird 900 Mann entsenden, Deutschland und
Spanien je 600. Auch Italien, Frankreich, die Niederlande, Polen und
andere europäische Staaten werden ihre Kontingente aufstocken.
Großenteils waren die Verstärkungen schon vor mehreren Wochen
angekündigt worden.
Am Rande des NATO-Gipfels – und von den
Teilnehmern anscheinend unbeachtet – ließ Obama in der Nacht zum
Sonnabend wieder einmal ein »Ziel« in Nordwestpakistan durch Raketen
eines unbemannten Flugkörpers zerstören. Bei dem Angriff auf das Haus
eines Lehrers in Wasiristan, der angeblich in Verbindung zu den Taliban
stand, wurden 13 Menschen getötet. Nach Angaben örtlicher Behörden sind
unter den Opfern neben mehreren mutmaßlichen Kämpfern auch Frauen und
Kinder.
Erst am Mittwoch waren bei einem anderen Raketenangriff
mindestens 14 Menschen ums Leben gekommen. Die pakistanische Regierung
hat immer wieder ohne Erfolg darauf hingewiesen, dass das Vorgehen der
USA nicht nur die Souveränität Pakistans verletzt, sondern auch
politisch absolut kontraproduktiv ist.