Zehntausende gegen die NATO - Polizei provoziert Gewalt

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Erstveröffentlicht: 
04.04.2009

In Strasbourg und Kehl haben heute Zehntausende von Menschen gegen den NATO-Gipfel demonstriert. Eigentlich sollte sich eine aus Kehl kommende Demonstration auf der französischen Seite mit der dortigen Großdemonstration vereinen, aber französische und deutsche Polizei sperrte die Grenzübergänge- Zugleich provozierten die Sicherheitskräfte seit den Morgenstunden in martialischer Aufmachung die Masse der Demonstranten und gingen brutal gegen alle Versuche vor, den Gipfel zu blockieren. Dutzende Menschen wurden teilweise schwer verletzt.



Einem Bericht von »Linke Zeitung« zufolge setzten sich Tausende Demonstranten kollektiv gegen Wasserwerfereinsätze und den Beschuss mit Gummi- und Blendschockgeschossen durch die Polizei zur Wehr. Mehrere Lautsprecherwagen für die Demo wurden von der französischen Polizei an der Anreise gehindert und Personen, die in die Protestvorbereitungen involviert sind, an der deutsch-französischen Grenze abgewiesen. Aus Hubschraubern schossen französische Sicherheitskräfte Tränengas auf die Demonstranten.

Ein Sprecher des Antikapitalistischen Blocks erklärte: »In Strasbourg und Kehl erleben wir in diesen Stunden eine neue Stufe polizeilicher Gewalt. Wir werden trotz allem versuchen, die Demonstration mit unserem Block in die Innenstadt von Strasbourg zu führen. Wir wollen die NATO-Kriegsstrategen direkt mit unserem Protest konfrontieren. Das internationale Bündnis zur Vorbereitung der Proteste wird sich nicht spalten lassen.

Die Welt soll ruhig sehen, wie in angeblich demokratischen Ländern, die ihre Demokratie zum Exportmodell erklären, mit Massenprotesten umgegangen wird. Wir freuen uns, dass heute Zehntausende gekommen sind und sich von der Stimmungsmache der Behörden nicht haben abschrecken lassen. Die Sicherheitsorgane proben den Krieg gegen unliebsamen Protest. Sie tragen die Hauptverantwortung für das, was derzeit in Strasbourg und Kehl geschieht. Dass die Demonstranten sich nicht wehrlos der brutalen Staatsgewalt aussetzen lassen, dürfte wohl logisch sein.«

Das äußerte sich auch in Gewalt. Eine Tourismus-Information, ein Hotel und ein früherer Grenzkontrollposten gingen in Flammen auf. Für die Polizei der perfekte Vorwand, um die viele Tausend Menschen starke Friedensdemonstration aus Kehl nicht die Grenze nach Frankreich passieren zu lassen. Stundenlang warten die Demonstranten, auch Vermittlungsversuche des Grünen-Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele mit der Polizei fruchten nicht. Aber trotzdem lassen sich die Demonstranten nicht provozieren - und sogar die Polizei muss eingestehen, dass sie hier keinen Randalierern das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit nimmt.

Auf französischer Seite wird der dortige Demonstrationszug, der ohnehin pausenlos provoziert wird, von der Polizei an einer Brücke über den Petit Rhin, einen Arm des Rheins in Strasbourg, von der Polizei blockiert. Kurz darauf setzt die französische Polizei erneut Tränengas- und Schockgranaten ein. Wieder setzt sich der Zug in Bewegung, bis er an einem Bahnübergang wieder von der Polizei gestoppt wird. Zufall? Hier finden die Vermummten haufenweise Steine, zu Dutzenden gehen diese auf die Polizei nieder, melden Medien.

Aber wer sind die Vermummten? Sicherlich auch wütende Demonstranten, denen angesichts tagelanger Provokationen der Kragen geplatzt ist. Aber sonst? Indymedia meldet um 16.20 Uhr, dass in der Rue d'Algier 20 zivile Polizeiwagen gesehen wurden, in denen die eine Hälfte der Insassen uniformierte Polizisten, die andere Hälfte aber als »schwarzer Block« verkleidet war.

Reiner Braun von der internationalen JuristInnen-Vereinigung IALANA kommentierte die Auseinandersetzungen gegenüber der Tageszeitung »junge Welt« mit den Worten: »Die Repressionen und die Dimensionen des Polizeieinsatzes haben deutlich gemacht, daß eine aggressive Politik nach außen auch eine aggressive Politik nach innen bedingt. Wir hatten es mit einer wochenlangen provokativen Vorbereitung seitens der Behörden zu tun. Auch heute gingen die Aggressionen eindeutig ursächlich von der Polizei aus.«

Laut einem Bericht auf der Internetseite der französischen Tageszeitung »L'Express« sagte die Nationalsekretärin der Französischen Kommunistischen Partei, Marie-George Buffet: »Die deutschen Pazifisten wurden an der Grenze blockiert und die Provokateure kamen durch. Wenn die Behörden die Kundgebung in Ruhe hätten stattfinden lassen, wäre sie gut verlaufen und man hätte heute Abend Bilder des Friedens. Stattdessen hat man Bilder des Krieges.«

Eigentlich passend zu dem zeitgleich stattfindenden Treffen der Regierungschefs des Kriegsbündnisses NATO. Knut Mellenthin kommentiert die Ergebnisse dieser Tagung für »junge Welt«:

Wenn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, unterstützt von Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy, sich nicht darauf versteift hätte, ihren Wunschkandidaten für den Posten des NATO-Generalsekretärs unbedingt noch während des Gipfeltreffens in Strasbourg durchzusetzen, wäre die Jubiläumsfeier der westlichen Allianz wohl ohne Highlight zu Ende gegangen. So aber sorgte das zweitägige Tauziehen um den dänischen Premier Anders Fogh Rasmussen wenigstens für etwas scheinbare Dramatik während der ansonsten völlig auf Konsens abgestellten Tagung.

Zwar waren von den 28 Mitgliedsstaaten der NATO 27 für den Dänen oder hätten um dessen Kandidatur für die Nachfolge von Jaap de Hoop Scheffer sicher keinen Streit angefangen. Aber da der Beschluss einstimmig gefasst werden musste, blockierte das türkische Nein die Wahl Rasmussens. Die Regierung in Ankara kreidet ihm an, dass er sich vor drei Jahren schützend vor ein rechtes Blatt stellte, das anti-islamische Karikaturen veröffentlich hatte. Damit wäre der Däne in der islamischen Welt eine schwere Belastung für die NATO, argumentierte der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan. Darüber hinaus nimmt man Rasmussen in Ankara übel, dass er der Forderung nach Schließung eines kurdischen Senders nicht nachgekommen ist und dass er zur Front gegen den EU-Beitritt der Türkei gehört.

Anders als Merkel wäre die Mehrheit der Teilnehmer geneigt gewesen, die Wahl zu verschieben, da de Hoop Scheffer ohnehin noch bis zum Juli im Amt ist, also kein Zeitdruck bestand. Am Ende war es Barack Obama, der Erdogan mit Zusicherungen, über deren Inhalt bisher nichts bekannt ist, zur Aufgabe seines Veto überredete. Der US-Präsident bewahrte die Kanzlerin damit vor einer peinlichen politischen Niederlage.

Die »neue Strategie« der US-Regierung für Afghanistan und Pakistan, die Obama schon vor einer Woche bekannt gegeben hatte, wurde auf dem NATO-Gipfel einmütig mit Lob überschüttet. Dass damit nicht nur eine militärische Eskalation in Afghanistan verbunden ist, sondern auch eine in ihren Folgen völlig unüberschaubare und jedenfalls hochexplosive Ausdehnung des NATO-Krieges auf Pakistan, rief anscheinend keinerlei Widerspruch hervor. Das Thema wurde, soweit bekannt, nicht einmal diskutiert.
Andererseits zeigten die europäischen Bündnispartner allesamt wenig Neigung, für diesen Krieg, in dem angeblich die Existenz der Allianz auf dem Spiel steht, mehr Soldaten zur Verfügung zu stellen. Die US-Regierung hatte schon im Vorfeld öffentlich versichert, dass es darum beim Gipfeltreffen auch gar nicht gehen werde.

Herausgekommen ist schließlich, dass alle europäischen Staaten zusammen ungefähr 5000 Soldaten zusätzlich nach Afghanistan schicken werden. Davon werden 3000 zeitlich befristet zur Absicherung der Präsidentenwahl im August eingesetzt. Zwischen 1400 und 2000 Militärangehörige sollen Ausbildungsaufgaben für die Streitkräfte und die Polizei Afghanistans übernehmen. Großbritannien wird 900 Mann entsenden, Deutschland und Spanien je 600. Auch Italien, Frankreich, die Niederlande, Polen und andere europäische Staaten werden ihre Kontingente aufstocken. Großenteils waren die Verstärkungen schon vor mehreren Wochen angekündigt worden.

Am Rande des NATO-Gipfels – und von den Teilnehmern anscheinend unbeachtet – ließ Obama in der Nacht zum Sonnabend wieder einmal ein »Ziel« in Nordwestpakistan durch Raketen eines unbemannten Flugkörpers zerstören. Bei dem Angriff auf das Haus eines Lehrers in Wasiristan, der angeblich in Verbindung zu den Taliban stand, wurden 13 Menschen getötet. Nach Angaben örtlicher Behörden sind unter den Opfern neben mehreren mutmaßlichen Kämpfern auch Frauen und Kinder.
Erst am Mittwoch waren bei einem anderen Raketenangriff mindestens 14 Menschen ums Leben gekommen. Die pakistanische Regierung hat immer wieder ohne Erfolg darauf hingewiesen, dass das Vorgehen der USA nicht nur die Souveränität Pakistans verletzt, sondern auch politisch absolut kontraproduktiv ist.