Linksextremisten haben eine Kabelbrücke in Brand gesetzt – mit großen Folgen: für die S-Bahn, für Krankenhäuser und auch für sie selbst. Beifall jedenfalls spendet erstmals niemand
Es ist 20 Minuten vor sechs, als Ralf Korzendorfer am Montagmorgen an seinem Arbeitsplatz eintrifft. Fünf Minuten später entdeckt er ein Problem. Die Telefonleitungen sind tot. Korzendorfer ist der Technische Leiter des Krankenhauses Elisabeth Herzberge. Telefone, die nicht funktionieren, sind für ein Klinikum fatal. Korzendorfer greift nach seinem Handy, wählt die Nummer des Anbieters Vodafone. Eine Stunde später weiß er: Es gab einen Kabelbrand am Ostkreuz, verschmort sind auch Telefonkabel von Vodafone, das Netz ist lahmgelegt – und seine Klinik von der Außenwelt abgeschnitten, Dauer ungewiss.
Korzendorfer beginnt, Handys im Haus zu verteilen, um zehn Uhr hat jeder eines, der es dringend braucht, einige Ärzte zum Beispiel und die Oberschwester der Notaufnahme.
Deren Nummer gibt er der Feuerwehr. Wer Hilfe braucht, kann sie also bekommen – über Umwege. Zwar können Angehörige ihre Kranken in den Zimmern nicht erreichen, kann niemand einen Termin vereinbaren, doch so ist wenigstens das Nötigste gewährleistet, Korzendorfer bleibt ruhig.
Das Feuer, das früh am Montagmorgen, früher noch, als Ralf Korzendorfer seinen Dienst beginnt, am Bahnhof Ostkreuz brennt, ist kein großes Feuer, aber ein gründliches. Es legt den Schienenverkehr in Berlin und im Umland lahm, und zudem werden etliche Telefonverbindungen gekappt. Vor allem aber ist es kein Unfall, kein normaler Kurzschluss, sondern ein herbeigeführter. Am Tatort findet die Polizei Brandbeschleuniger, im Internet später ein Bekennerschreiben von Linksextremisten.
Ob den Zündlern klar war, dass an dieser Kabelbrücke der Bahnbetrieb der halben Hauptstadt und des Umlandes hängt und außerdem noch Internet- und Telefonleitungen von zwei Krankenhäusern – Elisabeth Herzberge und das Unfallkrankenhaus Marzahn? Am Ostkreuz treffen sich Ring- und Stadtbahn und damit fast alle Linien und auch Regionalzüge im Netz. Am Dienstag kommen zu einer Sondersitzung der Berliner Innenstaatssekretär, der Polizeipräsident, Vertreter der Bahn, des Verfassungsschutzes, des Landeskriminalamtes und des Bundesinnenministeriums zusammen. Das sei kein Insiderwissen gewesen, heißt es da. Und so wirft der Anschlag ein kleines, grelles Lichtlein auf zwei Unternehmungen in der Krise: die S-Bahn – und die Linksextremisten.
„Die haben vermutlich nicht gewusst, was sie anrichten“, sagt jedenfalls ein Sicherheitsexperte, und er bescheinigt den Militanten darüber hinaus, mit diesem Anschlag einen schweren taktischen Fehler gemacht zu haben. Denn Linksextremisten achteten stets darauf, dass ihr Anschlag zumindest Teilen der Bevölkerung zu vermitteln sei, als Fanal im Kampf gegen den Kapitalismus. „Doch diesmal wurden so viele Leute getroffen, dass die Tat nur auf Unverständnis stößt“, sagt er.
Unverständnis zum Beispiel auch bei einem Mitarbeiter der Rettungsstelle des Krankenhauses Elisabeth Herzberge in Berlin-Lichtenberg. In einem Online-Forum, in dem auch das Bekennerschreiben der Linksextremisten veröffentlicht ist, schreibt er, die Auswirkungen seien schlimm gewesen. Operationen und wichtige Untersuchungen hätten nicht durchgeführt werden können, weil Patienten und auch Ärzte das Krankenhaus „erst mit erheblicher Verspätung erreichen konnten“. Rotraud Asche, Chefärztin der Aufnahme- und Diagnoseabteilung des Klinikums allerdings sagt, der Tag sei „überraschend normal“ verlaufen. Abgesagte OP-Termine habe es nicht gegeben, niemand sei wegen des Telefonausfalls zu Schaden gekommen.
Dennoch staunt der Laie, mit wie wenig Aufwand ein derart großer Schaden angerichtet werden kann. Aber der Fachmann wundert sich ganz und gar nicht, sondern erzählt eine Anekdote. Vor drei Jahren hätten er und seine Mitarbeiter für die Industrie in Berlin-Schöneweide einen beladenen Kesselwagen entgleisen lassen, berichtet Markus Hecht, Professor für Schienenfahrzeuge an der Technischen Universität Berlin. Für den Test habe die Bahn – gegen Bezahlung – ihren in Leipzig stationierten Einsatztrupp geschickt, um den Waggon per Kran wieder aufs Gleis zu hieven. „Aus einem Meter Höhe ist er dann abgestürzt“, sagt Hecht. „Weil die Seile zu dünn waren.“
Die Geschichte illustriert für Hecht exemplarisch den Zustand der Bahn: „Die planen viel zu wenig Rückfallebenen ein – überall.“ In der Technik gelte für alle wichtigen Komponenten der Grundsatz der Redundanz: Was sich mehrfach installieren lässt, gehört mehrfach installiert. So wie jedes Fahrrad zwei Bremsen und jedes Krankenhaus ein Notstromaggregat hat. Genauso selbstverständlich hätte ein derart wichtiger Kabelstrang doppelt vorhanden sein müssen, findet Hecht. Dann hätten die Linken ein folgenloses Feuer gelegt. Dass am Ostkreuz gerade bei laufendem Betrieb ein neuer Kreuzungsbahnhof gebaut wird und die sonst im Boden verlegten Kabel deshalb über eine Brücke geführt werden, sei keine Entschuldigung. Erst recht nicht, wenn die Kabelbrücke in einer nachts ziemlich finsteren Seitenstraße nur durch einen kaum mannshohen Maschendrahtzaun gesichert ist.
Bei der Bahn heißt es am Tag nach dem kleinen Terroranschlag mit der großen Wirkung, dass „wir uns aktuell die neuralgischen Punkte im Netz noch mal anschauen“. Das Schutzkonzept werde schon seit Jahresbeginn verbessert – mit zusätzlichen Streifen und zusätzlicher Sicherheitstechnik. Aber: „Bei so hoher krimineller Energie ist hundertprozentiger Schutz praktisch unmöglich“, sagt ein Sprecher.
Hecht sieht das Hauptproblem woanders. Erst am Vorabend habe er dem Vortrag eines Strategen aus dem Bahnkonzern gelauscht, in dem von zehn Prozent Renditeerwartung des Eigentümers die Rede gewesen sei. „Absurd“ sei das. „Die Zuverlässigkeit muss in den Fokus, nicht die Rendite.“ Darum müsse sich der Bund als Eigentümer der Bahn kümmern, doch der komme seiner Aufsichtspflicht nicht nach: „Ich höre und sehe nichts vom Aufsichtsrat“, sagt Hecht. Für den Autoverkehr leiste sich die Regierung die Bundesanstalt für Straßenwesen, in der 1500 Fachleute auch Zukunftsweisendes entwickeln könnten. Dagegen sei das Eisenbahn-Bundesamt nicht nur viel kleiner, sondern auch inhaltlich kaum mehr als eine Zulassungsbehörde für die jeweils aktuelle Technik. Die Bahn sei zu wichtig, um vom Verkehrsministerium vernachlässigt zu werden. Auch nach dem Abgang des Bahnchefs Hartmut Mehdorn habe sich wenig geändert.
Eine Kombination aus Wartungsschlamperei und technischen Mängeln lähmt die Berliner Bahntochter - und macht sie umso empfindlicher für Störungen. Weil ständig rund ein Viertel der Flotte auf Abstellgleisen oder in der Werkstatt steht, fehlen die Reserven, um beispielsweise ein Netz aus Pendelzügen zu knüpfen. Diese Pendel brauchen zwar auch Strom, aber können notfalls ohne Signaltechnik hin- und herfahren.
Nach dem Anschlag hat die Szene der militanten Linken ein paradoxes Problem. Die Tat war zu erfolgreich. Der Kabelbrand hat nicht nur, wie bei anderen Zündeleien, ein Unternehmen geschädigt oder die Bundeswehr. Dass zehntausende Pendler in und um Berlin vergeblich auf S-Bahnen und Regionalzüge warteten, ging offenbar weit über die von den Tätern erhoffte Wirkung hinaus.
Die Täter geben sich den Fantasienamen „Das Grollen des Eyjafjallajökull“, in ihrem Bekennerschreiben verdammen sie Waffenexporteure und Atomkraft. Unter dem Schreiben stauen sich online Kommentare, nicht nur der des Mitarbeiters im Klinikum. Am Dienstag waren es schon hunderte. Kaum nette. Viele grollen den anonymen Mitstreitern des Eyjafjallajökull, die betonen, dass niemand zu Schaden komme. „Ihr seid hirnverbrannte Vollidioten!“, schreibt einer.
Aber wer zündelt da überhaupt? Sicherheitskreise verweisen auf die üblichen Milieus, ohne jedoch schon Verdächtige benennen zu können. Der Berliner Verfassungsschutz hat in seinem kürzlich vorgelegten Jahresbericht für 2010 die Szene auf 1100 „aktionsorientierte, auch gewaltbereite Linksextremisten“ taxiert. Feste Strukturen gibt es kaum, die Autonomen bilden oft Gruppen und Grüppchen, deren Mitglieder sich länger kennen und vertrauen. Anschläge wie der vom Montag werden von konspirativen Trupps geplant, vorbereitet und verübt, manchmal mit viel Akribie. Die Polizei erwischt nur selten Täter, denn sie hinterlassen kaum Spuren, und die Szene hält weitgehend dicht.
Zumindest nach außen. Durch sie hindurch verläuft seit längerem ein Riss. Die Autozündeleien, die 2009 Berlin erschreckten und in diesem Frühjahr wieder zunehmen, sind bei den Autonomen umstritten. „Weitgehend sprachlos knisterten die Luxuskarossen des Nachts vor sich hin“, schrieb im Dezember ein anonymer Autor im Szeneblatt „Interim“. Dass auch viele Firmenwagen brannten, habe „in den dazugehörigen Kampagnen“ kaum vermittelt werden können. In dem resignativen Beitrag zeigte sich schon das Eyjafjallajökull-Syndrom: der „Erfolg“ lodernder Militanz ist so grell, dass er politische Absichten ausblendet.
Man kennt das in Berlin auch vom 1. Mai, an dem die militanten Linken die Deutungshoheit über den Krawall weitgehend verloren haben. Weshalb in diesem Jahr die „Revolutionäre Demonstration“ beinahe zahm daherkam, um endlich wieder als politisch wahrgenommen zu werden. Und nun, drei Wochen später, legen sich Revolutionäre mit zehntausenden Berlinern an, jenseits aller Regeln der Vermittlung linker Politik.
Fast einen Tag steht das sogenannte „rote Telefon“, die direkte Verbindung zur Notaufnahme im Evangelischen Krankenhaus Elisabeth Herzberge in Lichtenberg still. Von der Einsatzleitstelle der Feuerwehr können über den Apparat keine Schlaganfallpatienten vorgemeldet werden, können Ärzte und Teams nicht via Telefon in den Schockraum beordert werden, bevor ein Patient eintrifft. Erst um ein Uhr am Dienstagmorgen sind die Leitungen wieder intakt.
Mühsam, aber stetig setzt sich am Dienstag auch der S-Bahn-Verkehr wieder in Bewegung, am Freitag, so hoffen sie bei der Bahn, soll alles wieder funktionieren.