75 Prozent stärker belastet

Erstveröffentlicht: 
26.04.2011

Vom japanischen „Strahlenproletariat“ war die Rede und den französischen Nuklear-Nomaden wurde nachgespürt. Dabei ist Leiharbeit in AKW nicht nur im Ausland ein Problem

 

Mit der Katastrophe von Fukushima rückten auch die Arbeitsverhältnisse in Atomkraftwerken ins öffentliche Bewusstsein – vom japanischen „Strahlenproletariat“ war die Rede, eine Zeitung spürte den französischen Nuklear-Nomaden nach. Dabei ist Leiharbeit in AKW nicht nur im Ausland ein Problem.

 

Leiharbeiter, hieß es schon in Robert Jungks Klassiker Der Atomstaat, sind die „Söldner, die Lumpenproletarier der Atom­industrie“, denen man „alles zumuten darf“. Etwa für Reinigung und Wartung brauchen die Betreiber kurzfristig deutlich mehr Personal als im Normalbetrieb. Es geht um gefährliche Arbeiten, bei denen Beschäftigte erhöhter radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind: Jobs für Leiharbeiter. Wie viele von ihnen in deutschen AKW zum Einsatz kommen, ist nicht leicht zu ermitteln. Auch die Gewerkschaften, denen das Thema sonst so am Herzen liegt, zeigen sich wenig auskunftsbereit. Einen Anhaltspunkt bieten die Strahlenpässe, die 1977 mit der Strahlenschutzverordnung eingeführt wurden. Das gelbe Heft im A6-Format soll sicherstellen, dass Arbeiter nicht zu viel Strahlung abbekommen. Wer seine „Dosisreserve“ aufgebraucht hat, wird nicht mehr eingesetzt.

 

Wurden im ersten Jahr, 1977, weniger als 4.000 Pässe ausgestellt, hatte sich ihre Zahl zwei Jahre später bereits verfünffacht. Ende der Achtziger waren bereits rund 60.000 Strahlenpässe vergeben, 2009 zählte das Umweltministerium 75.000 Inhaber des Dokuments – wobei offen ist, wie viele davon AKW-Leiharbeiter sind.

 

24.000 externe Mitarbeiter

Die über die Jahre gewachsene Bedeutung der Leiharbeit in Atommeilern bestätigt jedoch eine 2000 veröffentlichte Studie des Otto-Hug-Strahleninstituts: Sie gibt für 1973 knapp 3.000 Leiharbeiter an, 1990 wurden bereits rund 28.000 gezählt. Und 2009 arbeiteten nach Angaben des Umweltministeriums rund 24.000 „externe Mitarbeiter“ in deutschen AKW. Üblicherweise sprechen die Energiekonzerne von insgesamt 30.000 bis 40.000 Beschäftigten in der Kernenergieerzeugung.

 

Der hohe Anteil an so genanntem Fremdpersonal ist nicht zuletzt auf den Versuch zurückzuführen, die strahlenintensivsten und gefährlichsten Arbeiten „umzuverteilen“. Mit Leiharbeitern werden gesundheitliche Risiken gewissermaßen outgesourct: In den achtziger und neunziger Jahren kamen drei Viertel aller Arbeiter, die in AKW radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren, von Fremdfirmen. Seit Mitte der achtziger Jahre ist ihre Belastung höher als die der Stammbelegschaften – laut Otto-Hug-Institut „um etwa 75 Prozent“.

 

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Die Gefahren vervielfachen sich, wenn unter Zeitdruck gearbeitet werden muss. Und der ist seit der Liberalisierung des Energiesektors größer geworden. So wurde zum Beispiel zwischen 1994 und 1999 die Revisionszeit im Atomkraftwerk Neckarwestheim II auf die Hälfte reduziert – von 33 auf 17 Tage. Schon länger kritisiert die Ärzte-Organisation IPPNW, dass in Atomkraftwerken „regelmäßig ungelernte Hilfskräfte und Leiharbeiter eingesetzt“ würden. Der Siemens-Konzern etwa soll 1996 beim Austausch der für die Reaktor-Schnellabschaltung erforderlichen Steuerstäbe des AKW Isar-1 rund 40 Prozent Hilfskräfte eingesetzt haben. Die 14 Steuerstabantriebe wurden in Rekordzeit ausgetauscht, was nach Meinung von IPPNW nichts anderes bedeutet, als dass die Arbeiter intensiver und länger radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurden.

 

Wesentliche Ursache

Mit welchen Folgen das womöglich einhergeht, zeigte jetzt ein Bericht des Fernsehmagazins Report Mainz. Ein Dekontaminationsarbeiter, der zwischen 2001 und 2007 für ein Unternehmen in zwölf AKW die Becken für Brennelemente gereinigt hatte, starb vor zwei Jahren an Blutkrebs. Während die Berufsgenossenschaft abstreitet, dass die Krankheit wesentlich auf seine Arbeit in tödlicher Umgebung zurückzuführen ist, kam ein Gutachten der Universitätsmedizin Göttingen zu einem ganz anderen Schluss. Die Radioaktivität sei „eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Leukämie“.

 

Laut seinem Strahlenpass hatte der Mann übrigens keine übermäßige Strahlung abbekommen. Die bisher gültige Regelung geht davon aus, dass eine chronische Belastung weniger schädlich ist als ein akute – ohne dass es hierfür eine Begründung gebe, kritisiert die Grüne Sylvia Kotting-Uhl. Deshalb fordert sie eine Senkung der Grenzwerte. Wegen des erhöhten Zeitdrucks bei den Revisionen der Meiler ist aber vor allem die Nichteinhaltung von Vorschriften das zentrale Problem. Die würden oft ignoriert, hatte der verstorbene Dekontaminationsarbeiter gegenüber der Berufsgenossenschaft zu Protokoll gegeben. So seien beispielsweise Räume trotz erhöhter Strahlung für Revisionsarbeiten freigegeben worden – für ihn mit offenbar tödlichen Folgen.

 

Der durch Report Mainz bekannt gewordenen Fall, der nun vor Gericht ist, hat die Gewerkschaften verunsichert. Es werde ein politischer Prozess unterstreicht Wolfgang Niclas von der IG Metall Erlangen, der für Areva zuständig ist. Wenn entschieden wird, dass die Krebserkrankung auf die Reinigungstätigkeit in den Atommeilern zurückzuführen, also eine Berufskrankheit ist, wäre es ein Urteil mit Signalwirkung.

 

Harmloser Begriff "Service"

Aber auch der Gewerkschafter Niclas kann wenig über Leiharbeit in den Meilern sagen, die von Areva "betreut" werden. Zehn Prozent der Beschäftigten des Konzerns sind Leiharbeiter, wie viele im so genannten AKW-Service eingesetzt werden, ist unbekannt. Hinter dem harmlosen Begriff "Service" verbirgt sich unter anderem die Überprüfung der Sicherheitsvorrichtungen bei einer Revision, das Auswechseln der Brennstäbe sowie vor allem der Rückbau von stillgelegten AKW.

Ein besonderes Programm für Leiharbeiter in AKW gibt es in der IG Metall nicht. Dafür sei die Gewerkschaft zu schlecht aufgestellt, sagt Niclas. Zudem sei die IG Metall seit Jahrzehnten konsequent für den Ausstieg aus der Atomenergie, was die Verhandlungsbedingungen mit den Arbeitgebern der Branche nicht unbedingt verbessert habe. Und dennoch: Auch für diese Leiharbeiter macht sich die IG Metall stark, für sie sollen die allerbesten Sicherheitsbedingungen gelten und eine möglichst umfassende Gleichbehandlung. Die IG Metall hat wie in allen Betrieben das Interesse daran, Leiharbeit auf ein „vernünftiges Maß“ zu bringen, so Niclas. Was das konkret heißen soll, ist unklar.

 

Dass Leiharbeit in Atomkraftwerken ein Problem ist, zeigte vor knapp zwei Jahren bereits ein Bericht der Internationalen Zeitschrift für Kernenergie, einem von der wichtigsten Atom-Lobby-Gruppe Atomforum herausgegebenen Blatt. Dort war von einem von RWE eingeführten Programm "Führungskräfte vor Ort" die Rede, das in den Meilern Biblis A und B etabliert wurde und zu einem "deutlichen Rückgang der Arbeitsunfälle" bei Revisionen geführt habe. Einer davon ereignete sich 2002 – und sollte offenbar unter der Decke gehalten werden.

 

Die hessische Atomaufsicht jedenfalls erfuhr seinerzeit erst aus den Medien, dass ein Leiharbeiter bei einem Unfall leicht verstrahlt und in die 1991 eingerichtete Spezialabteilung der Unfallklinik Ludwigshafen eingeliefert wurde. RWE sah keinen Meldebedarf, stattdessen sprach der Konzern zunächst nur von einem „Treppensturz“. Inzwischen gibt es bei dem Konzern ein „Fremdfirmenarbeitsschutzmanagement“.