Das versteckte Leben

Erstveröffentlicht: 
09.02.2011

Die meisten alten jüdischen Freiburgerinnen und Freiburger leben aus Angst vor Übergriffen lieber unerkannt.

 

Erika Herz* (Name von der Redaktion geändert) möchte ihre Geschichte eigentlich gar nicht erzählen. Die alte Dame wurde in der Nazizeit als Jüdin verfolgt, im Holocaust wurden fast alle ihre Verwandten ermordet, sie selbst verbrachte ihre Kindheit im Exil in Südafrika – und erzählt heute niemandem in ihrer Freiburger Senioren-Wohnanlage davon. Denn unter ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern dominieren beim Rückblick auf das eigene Leben vor allem nostalgische Gespräche oder traumatische Erinnerungen, über Flucht, die "deutsche Niederlage 1945" und den "Freiburger Bombenkrieg".

Mit dem Thema, das ihr Leben bestimmt, ist Erika Herz in dieser Umgebung vermutlich allein. Sie fühlt sich nur sicher, wenn sie ihre eigene Geschichte versteckt. Zum Beispiel, dass es in Südafrika keine Kirschen gab. Wenn Erika Herz jetzt zu ihrem Geburtstag einen Kirschkuchen geschenkt bekommt, ist das für sie ein Aufholen. Doch sie weiß: "Ein Ozean voller Kirschen wäre nicht genug, um die Zeit im Exil wieder nachzuholen."

Austauschen könnte sie sich leichter mit Holocaust-Überlebenden und politisch Verfolgten. Doch jüdische Einrichtungen wie die Seniorenwohnanlage Budge-Stiftung in Frankfurt am Main gibt es in Freiburg mangels Nachfrage nicht.

 

Nach Aussage von Uschi Amitai, der ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, wollen die meisten jüdischen Freiburger nicht an die Öffentlichkeit treten, auch wegen Angriffen gegen Juden in anderen Städten. Grund seien außerdem Erfahrungen mit Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion – 95 Prozent der Mitglieder der Freiburger jüdischen Gemeinde kommen aus den GUS-Staaten. Uschi Amitai: "Wir hatten vorgeschlagen, jüdische Gemeindemitglieder in einer Senioren-Wohnanlage zusammen zu bringen; aber daraus wurde nichts."

Die heutigen Bewohner von Seniorenwohnanlagen und Pflegeheimen in Deutschland wurden in der Nazizeit sozialisiert, viele haben den Krieg direkt erlebt. Andrea Jandt, Chefin des St. Marienhaus in der Talstraße, erzählt, wie englische Musik von manchen Bewohnern abgelehnt wird, "weil Freiburg von den Engländern im Krieg bombardiert wurde". Diakon Josef Glaser, Leiter des Wohn- und Pflegeheims in Kirchzarten, hat in 30 Arbeitsjahren immer wieder Bewohner erlebt, die am Ende ihres Lebens von schlimmen Erinnerungen an eigene Taten eingeholt wurden. Auch eine "Unverbesserliche" habe es gegeben, eine frühere Mitarbeiterin der Gestapo Paris, die aus ihrer braunen Vergangenheit und ihrer immer noch braunen Gesinnung keinen Hehl machte.

Zu einem Zivi habe sie gesagt: "So was wie Sie hätten wir früher vergast." Er hat aber auch Menschen erlebt, die früher im Widerstand gegen das Nazi-Regime waren, und solche, die ihre Biografie nie verbargen: "Er war Jude. Sie war Christin und wurde von ihrer eigenen Schwester bei der Gestapo angezeigt. Das Paar konnte gerade noch rechtzeitig nach Brasilien flüchten."

Folkmar Biniarz, Leiter des Freiburger Pflegeheims Senovums, berichtet von einer Holocaust-Überlebenden, die unter schweren Verfolgungsängsten litt. Mit der Begründung ,Alles Mörder dort' war sie, die mehrere Konzentrationslager überlebte, von einer anderen Einrichtung ins Senovum gewechselt. Besonders nachts wurden die Erinnerungen an ihre traumatischen Erlebnisse im KZ wach. Biniarz: "Sie wollte, dass unser Pflegeheim mit Sicherheitskräften gut überwacht wird, sah sich jedoch überall von Vergewaltigern umzingelt." Die Bewohnerin ist vergangenes Jahr in die Budge-Stiftung nach Frankfurt umgezogen. In anderen Einrichtungen scheint das Problem weniger bekannt zu sein. Christa Varadi, Direktorin des St. Carolushaus: "Antisemitische Angriffe in dieser Altersgruppe kommen in unserer Einrichtung nicht vor."

Wenn alte Menschen ins Wohn- oder Pflegeheim ziehen, fragen die Leitenden der Einrichtungen nach ihrer Biografie. Andrea Jandt: "Es hängt von den Bewohnern ab, ob sie etwas preisgeben – oft wissen aber nicht mal die eigenen Kinder Bescheid." Einige Einrichtungen berichten von ihren Schwierigkeiten, mit den wenigen Holocaust-Überlebenden adäquat umzugehen. Jandt erzählt: "Wir haben über viele Jahre eine Frau betreut, die als Jüdin im KZ war und überlebt hat. Weil sie inzwischen dement war, konnten wir mit ihr das Erlebte nicht besprechen, aber ihr das Gefühl geben, dass wir für sie da sind."

Die Zeitzeugen des Krieges sind inzwischen um die 90 Jahre alt. In wenigen Jahren wird diese Generation der Täter und der Opfer nicht mehr leben. Doch das Thema lebt in den Nachgeborenen weiter, denn auch die Nachfahren der Verfolgten tragen das Trauma ihrer Eltern in sich.