Seit ein paar Jahren äußert sich bundesweit in verschiedenen Städten ein verstärktes Interesse [1], nicht nur die Millionen Ermordeten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Erinnung zu halten, sondern ebenfalls jenen zu gedenken, die selbst ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch zu Opfern menschenverachtenden Denkens und Handelns wurden.
Seit Anfang der 1990er Jahre wurden bisher über 130 Menschen gezählt, die aus rassistischen, faschistischen oder sozialdarwinistischen Motiven getötet wurden. Eine erhebliche Gruppe der Opfer bilden Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten, wie etwa Dieter Eich in Berlin. Am kommenden Samstag, den 5. Februar jährt sich zum 16. Mal der Tag, an welchem Horst Pulter in Velbert von einer Gruppe von Neonazis ermordet wurde, weil er auf einer Parkbank schlief. Für die Täter war es ein Zeitvertreib zuerst auszutesten, wie oft man einem Schwan den Hals umdrehen kann, um im Anschluss einen wehrlosen Mann zu verhöhnen, als „Juden“ zu beschimpfen, auf ihn ein zu treten und zu schlagen. Zur Vertuschung ihrer Tat rammte einer von ihnen ein Fleischermesser in seinen Körper. Die Tat wurde zwar aus Sicht der Staatsanwaltschaft laut damaligen Zeitungsberichten als Auswuchs einer „rechtsradikalen, menschenverachtenden Gesinnung“ gewertet, jedoch ging diese Tat, wie viele andere, nicht in das offizielle Melderegister für Todesopfer rechter Gewalt ein. Aus heutiger Sicht wäre es für weite Teile der Öffentlichkeit nicht mehr nachvollziehbar, gäbe es nicht seit Anfang der 1990er Jahre eine unabhängige Zählung durch Initiativen wie die „Amadeu Antonio Stiftung“. Das Ziel von lokalen Initiativen, wie die der AntifaschistInnen in Velbert, ist es, regelmäßig die Namen der Opfer faschistischer Gewalt in das Gedächtnis der Öffentlichkeit zu rufen und immer wieder nach den Gründen für ihr Leiden zu fragen.
Die Grenzen von nazistisch motivierten zu „unpolitischen“ Taten erscheinen fließend; der Mord an Klaus B. in Kamp-Lintfort zeigte zuletzt, wie tief im Denken „normaler“ Menschen die Unterscheidung von Leben in „wertig“ und „unwertig“ verankert ist. Solche Taten beruhen nicht nur auf dem Denken Einzelner, die sich an einen „extrem“ rechten Rand verirrt haben.
Es entspringt vielmehr einem gesellschaftlichen Klima, in welchem
Menschen zunehmend „überflüssig“ werden und ihr Auskommen nur noch
abhängt von ihrer Bereitschaft, jederzeit jede beliebige (oder sogar
imaginäre) Arbeit anzunehmen, sei sie auch noch so sinnlos. Tun sie das
nicht – z.B. weil es einfach keine Arbeit gibt – drohen ihnen
Sanktionen, deren Menschenwürdigkeit nicht das Papier wert ist. Und was
das Gesetz und seine Vollstrecker nicht für die Drangsalierung und
Demütigung leisten können, das leistet die „Vierte Staatsgewalt“, die
Medien. Ihre Wirkmächtigkeit hält einerseits den irrationalen Glauben
der arbeitenden Bevölkerung aufrecht, alles tun zu müssen um ihre
Arbeitsstelle und ihren Lebensstandard halten zu können. Was die
Konkurrenz der Arbeitenden und Arbeitssuchenden untereinander für sie
selbst bedeutet (nämlich das stete Einbüßen ihrer Lebensqualität
zugunsten ihrer Arbeit), das bedeutet andererseits das „Hauen und
Stechen“ gegen solche, die vielleicht jede Hoffnung auf ein würdiges
Leben in Arbeit längst aufgegeben haben. Sie werden kurzerhand als
„Sozialschmarotzer“ und „arbeitsscheu“ diffamiert, ihr Recht auf
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verneint. Und dabei handelt es sich
nicht nur um individuellen Neid, sondern um eine „abstrakte
Feindschaft“ gegen alles, das sich nicht der scheinbar naturgegebenen
Pein der eigenen ‚Angst in der Arbeit‘ unterwirft. Offen einsichtig wird
dies z.B. in abfälligen Äußerungen, und einer feindseligen Einstellung
in weiten Teilen der Bevölkerung, die mittlerweile auch durch die Studie
„Deutsche Zustände“ zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
bestätigt wurde. Wie weit ist eine feindselige Einstellung gegenüber
„Arbeitsscheuen“ entfernt vom „Obdachlose klatschen“ oder der
Inkaufnahme von Toten?
Zumindest zeigt sich eine gewisse Heuchelei, wenn in den Medien über den
Mord an einem Obdachlosen, wie im Fall von Klaus B., berichtet wird,
etwa im Sinne von: „und das obwohl er kurz davor war, eine Wohnung und
eine Arbeit zu erhalten“. Mit solchen und anderen „Nachrufen“ schafft es
die Öffentlichkeit, einen Menschen über seinen gewaltsamen Tod hinaus
noch zu verhöhnen, und das Motiv für den Mord vollzieht sie
unterschwellig nach. Jedes ehrliche Mitgefühl, das das Leben eines
Menschen als Wert für sich anerkennt, verkommt zur schlechten
Moralpredigt, wenn gleichzeitig auf den prospektiven wirtschaftlichen
Nutzen eines Opfers verwiesen wird.
Unsere Aufgabe als AntifaschistInnen ist es daher, in Zukunft die Augen offen zu halten, wenn Menschen, die durch kapitalistische Zumutungen an den Rand gedrängten wurden, Gewalt angetan wird, und es gilt, ihre Würde als Menschen in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Weiterhin ist es unsere Aufgabe, jenen zu gedenken, die selbst vor gar nicht so langer Zeit zu Opfern einer zugespitzten Form dieses Denkens und Handelns geworden sind. Die Zustände in den 1990er Jahren müssen wir uns und anderen heute auch gerade deshalb in Erinnerung rufen, da die junge Generation kaum etwas über die damaligen Auswüchse faschistischer Gewalt erfährt. Vor dem Hintergrund der ‚Krise‘, an der sich längst „vergessene“ Ressentiments nähren, ist das Wissen über diese politischen Zusammenhänge unabdingbar.
Klaus B., Dieter Eich, Josef Gera und Horst Pulter: ihr bleibt unvergessen!
[1] Gedenken für Menschen, die in den 1990ern ermordet wurden:
- Alberto Adriano (Dessau),
- Nihad Yusufoglu (Hachenburg)
- Silvio Meier (Berlin)
- Josef Anton Gera (Bochum)
- Dieter Eich (Berlin)
Antifaschistische Jugend Bochum, Februar 2011