S 21 „Mir haben viele Betroffene geschrieben"

Erstveröffentlicht: 
29.11.2010

Interview. Ein früherer Richter am Landgericht hat wegen des Polizeieinsatzes Ende September Dienstaufsichtsbeschwerde gestellt.

 

Gut drei Jahrzehnte lang hat Dieter Reicherter im Justizapparat über Fragen von Recht und Unrecht mitentschieden. Am 1. September 2010 ging er als Vorsitzender einer Strafkammer am Landgericht in den Ruhestand - einen Monat später erlebte der 63-Jährige den Polizeieinsatz im Schlossgarten mit. Seitdem hat sich sein Blick auf den Staat verändert.

Herr Reicherter, sind Sie eigentlich ein Berufsdemonstrant?

Bitte?

Sie waren am 30. September im Schlossgarten, als die Polizei das Baugelände räumte. Manche Politiker sprachen anschließend von Berufsdemonstranten, für kurze Zeit war auch von Steinwürfen gegen die Polizei die Rede.

Ich war an diesem Tag in Stuttgart, weil ich eine ehemalige Kollegin getroffen habe. Im Radio hörte ich vom Polizeieinsatz im Schlossgarten. Ich wollte mich vor Ort informieren. Ich war noch nie zuvor auf einer Demo, weder für noch gegen Stuttgart 21.

Sie sagen, dass Sie Distanz zur Auseinandersetzung wahren - umso mehr verwundert es, dass Sie in den Wasserstrahl der Polizei geraten sind. Die Polizei hat vor dem Einsatz des Wasserwerfers per Lautsprecher gewarnt.

Kurz nach 16 Uhr stand ich auf einer Wiese abseits des von der Polizei gesperrten Wegs. Die Warnungen vor dem Einsatz des Wasserwerfers gab es, da haben Sie recht. Aber die Polizei forderte die Demonstranten lediglich auf, den Weg zu räumen. Von der Wiese war nie die Rede.

Sie fühlten sich also sicher?

Zunächst schon. Schließlich lag die Wiese außerhalb der Fahrstraße. Dann wurde ich jedoch vom Wasserstrahl voll getroffen. Ich war durchnässt, meine Einkäufe aus der Stadt waren wertlos. Schockiert haben mich aber die vielen Verletzten.

Sie haben an den Innenminister Heribert Rech geschrieben und eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Besatzung des Wasserwerfers erhoben.

Die liegt inzwischen bei der Staatsanwaltschaft. Sie wird als Strafanzeige gewertet, obwohl ich keine eingereicht hatte.

Als Staatsanwalt und Richter haben Sie 34 Jahre dem Staat gedient. Ihre Dienstaufsichtsbeschwerde wirkt wie ein Frontalangriff - wie passt beides zusammen?


Ich habe meinen Staat an diesem 30. September nicht mehr wiedererkannt. Einen solchen Einsatz hätte ich nie für möglich gehalten. Mit meinem Schreiben wollte ich erreichen, dass einige Behauptungen von Politik und Polizei widerlegt werden: Im Gegensatz zu den Rechtfertigungen nach dem Einsatz waren die Demonstranten nicht gewalttätig - und der Einsatz der Mittel gegen sie war nicht angemessen.

Worauf beziehen Sie sich bei dieser Einschätzung - juristisch gesehen?

Auf das Polizeigesetz. Darin steht, dass die Polizei nur notwendige Mittel einsetzen darf und bei der Durchsetzung ihres Auftrags die mildesten Mittel anwenden muss. Dabei geht es um die Verhältnismäßigkeit. Weder von mir noch von den Demonstranten auf der Wiese ging am 30. September eine Gefahr aus.

Inzwischen haben viele Demonstranten Strafanzeige gegen die Polizei gestellt. Wie beurteilen Sie die Erfolgsaussichten?

Ich bin eher skeptisch. Die Staatsanwaltschaft müsste feststellen, wer den jeweiligen Übergriff begangen hat. Die Polizisten sind jedoch nicht gekennzeichnet gewesen. Das sehe ich als Hauptproblem.

Ein Untersuchungsausschuss soll nun klären, wer welche Verantwortung beim „Schwarzen Donnerstag" trug.

Mir haben viele Betroffene geschrieben. Für sie ist die Aufklärung der Vorgänge enorm wichtig. Sie hoffen darauf, dass die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt.

Halten Sie es für realistisch, dass dies angesichts der Zusammensetzung des Ausschusses passieren wird?


Ich bin erstaunt, dass sich sowohl Regierungs- als auch Oppositionspolitiker im Vorfeld festgelegt haben, was bei den Befragungen im Untersuchungsausschuss herauskommen soll. Ich vergleiche das mit meiner früheren Arbeit als Richter: Das wäre so, als ob ich ein Urteil fälle, bevor ich die Zeugen vernommen habe.


Das Gespräch führte Erik Raidt.