Die neue deutsche Frage (II)

Erstveröffentlicht: 
03.11.2010

BERLIN/LONDON/PARIS/WASHINGTON (Eigener Bericht) - Nach den Protesten mehrerer europäischer Regierungschefs gegen das deutsch-französische Diktat bei der Euro-Reform letzte Woche wächst EU-weit der Unmut über die zunehmenden Alleingänge Berlins. Dass die deutsche Kanzlerin sich mit dem Staatspräsidenten Frankreichs auf einen sogenannten Euro-Krisenmechanismus geeinigt habe, ohne die Regierungen aller anderen 25 EU-Staaten einzubeziehen, sei inakzeptabel, heißt es in Brüssel im Rückblick auf den aktuellen EU-Gipfel. Kritische Äußerungen über die deutsche EU-Hegemonialpolitik nehmen zu, seit Berlin während der Euro-Krise im Frühjahr mehr und mehr dazu überging, die Brüsseler Entscheidungen unverhüllt zu dominieren. Seitdem sprechen unter anderem französische, britische und US-amerikanische Medien von einer neuen "deutschen Frage", welche die europäische Politik im 21. Jahrhundert begleiten werde. US-Beobachter schließen einen Zusammenbruch der EU angesichts des deutschen Machtstrebens nicht aus und rechnen für diesen Fall mit einem deutsch-russischen Bündnis zunächst ökonomischer, dann auch militärischer Art.

 

Deutsch-französisches Direktorat
Nach den Protesten mehrerer europäischer Regierungschefs auf dem EU-Gipfel letzte Woche wächst EU-weit der Unmut über die zunehmenden Alleingänge Berlins. Auf dem EU-Gipfel hatten die deutsche Kanzlerin und der französische Staatspräsident Pläne zur Reform des Euro vorgelegt, auf die sie sich alleine bei einem bilateralen Treffen geeinigt hatten. Die Pläne sind überdies höchst umstritten: Sie beinhalten unter anderem die Forderung, EU-Mitgliedern bei gemeinsamen Entscheidungen das Stimmrecht zu entziehen, wenn sie sich den von Berlin oktroyierten Brüsseler Haushaltsregeln nicht beugen wollen oder können. Der deutsch-französische Versuch, die Pläne ohne eine ernsthafte Abstimmung mit den 25 anderen EU-Mitgliedern durchzusetzen, stieß auf heftigen Widerstand. Beschwerden über ein "deutsch-französisches Direktorat" waren zu hören, Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker sprach von "schlicht schlechtem Stil". Der von Berlin verlangte Entzug der Stimmrechte sei "nicht akzeptabel", erklärte selbst der Deutschland gewöhnlich zugeneigte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.[1]

Rücksichtslos
Kritische Äußerungen über die deutsche EU-Hegemonialpolitik nehmen zu, seit Berlin während der Euro-Krise im Frühjahr mehr und mehr dazu überging, die Brüsseler Entscheidungen unverhüllt zu dominieren. Bereits Ende März urteilte die britische Financial Times, die deutsche Kanzlerin habe mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen die "deutsche Frage wiedereröffnet".[2] Wenig später schloss sich die französische Wirtschaftspresse dieser Ansicht an; Berlin verlange etwa mehr Stimmrechte, wolle aber gleichzeitig seine Zahlungen an Brüssel möglichst reduzieren, klagte die Tageszeitung Les Echos.[3] Anfang Mai rief auch die Tageszeitung The New York Times eine neue "deutsche Frage" aus.[4] Vor wenigen Tagen schaltete sich schließlich das britische Wirtschaftsmagazin "The Economist" in die Debatte ein - mit Äußerungen, die eine weit verbreitete Unruhe wiedergeben.

Deutsche Selbstgerechtigkeit
Wie der "Economist" schreibt, habe die Krise "eine neue Hackordnung" geschaffen: Deutschland stehe mit seinen Exporterfolgen "an der Spitze, der Rest muss sich anpassen, Frankreich inklusive". Man bekomme "ein enormes Gefühl von deutscher Selbstgerechtigkeit, die sehr schwer zu ertragen ist", zitiert das Blatt einen Experten vom International Institute for Strategic Studies.[5] Die deutsche Führung zeige sich deutlich. Deutschland unterhalte konkurrenzlose Handelsbeziehungen zu aufsteigenden Mächten wie China; allein die Hälfte der EU-China-Exporte stamme aus der Bundesrepublik. Berlin könne mit Erfolg führende Positionen in EU-Institutionen beanspruchen: Der Europa-Berater der deutschen Kanzlerin, Uwe Corsepius, werde Generalsekretär des Europäischen Rates, Bundesbank-Chef Axel Weber gelte als Favorit für das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank. "Bei europäischen Planungen gibt Deutschland oft den Ton an", urteilt das Blatt - und erinnert exemplarisch daran, dass die europäische Fluthilfe für Pakistan erst starten konnte, als die Bundesregierung sich der Ansicht angeschlossen hatte, die Flutkatastrophe sei wirklich schlimm.

Zusammenbruch nicht ausgeschlossen
Angesichts des unverhohlenen deutschen Dominanzstrebens, das immer öfter Widerspruch weckt, schließen US-Beobachter einen Zusammenbruch der EU nicht aus. Gegenwärtig werde diskutiert, was die EU-Staaten einander schuldeten und wieviel Kontrolle über die einzelnen Mitglieder der EU zustehe, heißt es in einer Analyse des US-Thinktanks STRATFOR. Jedoch sei die Bereitschaft, finanziell für andere EU-Staaten einzustehen, ebenso beschränkt wie die Bereitschaft, sich der EU bedingungslos unterzuordnen. Zwar sei damit zu rechnen, dass der Euro und die EU die aktuelle Krise überstünden; doch ließen sich auch in Zukunft Krisen nicht völlig vermeiden, und Brüssel besitze "keine Institutionen, die diese Probleme behandeln könnten".[6] Eine ernsthafte weitere Integration der EU-Institutionen sei schwer vorzustellen; leicht hingegen lasse sich ahnen, wie die EU sich trotz ihrer ambitionierten Visionen in ein kraftloses Bündnis verwandeln könne. "Einen Superstaat zu errichten erfordert eines von zwei Dingen: einen Krieg, um festzustellen, wer der Chef ist, oder politische Einstimmigkeit, um einen Vertrag zu schmieden", urteilt STRATFOR. "Europa demonstriert lebhaft die Beschränkungen der zweiten Strategie."

Die russische Alternative
Wie STRATFOR weiter feststellt, habe die Krise bestätigt, dass die Bundesrepublik "eindeutig das Gravitationszentrum Europas" sei: "Wenn Deutschland nicht zustimmt, kann nichts getan werden, und wenn Deutschland es so wünscht, wird etwas getan werden. Deutschland hat eine ungeheuere Macht in Europa". Zugleich sei die Bundesrepublik "das einzige Land in Europa mit der Fähigkeit, alternative Koalitionen zu schaffen, die mächtig und bindend sind". Es lohne daher, "Alternativen zu einem Deutschland in der EU zu erkunden". STRATFOR kommt dabei zu dem Ergebnis: "Die historische Alternative für Deutschland ist Russland gewesen."[7] Die Bundesrepublik brauche Öl und Erdgas, während Russland Technologie und Kapital benötige; die beiden Länder könnten ihre Bedürfnisse gegenseitig decken. Tatsächlich arbeiten Berlin und Moskau schon längst daran - im Rahmen der sogenannten "Modernisierungspartnerschaft" (german-foreign-policy.com berichtete [8]). "Wir würden argumentieren", erklärt der US-Thinktank entsprechend, "dass eine deutsche Koalition mit Russland das einleuchtendste Ergebnis eines Abstiegs der EU wäre" - als zunächst wirtschaftliches, perspektivisch aber auch militärisches Bündnis für einen alternativen deutschen Aufstieg zur Weltmacht.



Bitte lesen Sie auch Die neue deutsche Frage (I).
[1] Wie viel hat Merkel gewonnen? Die Welt 30.10.2010
[2] Merkel's myopia reopens Europe's German question; Financial Times 25.03.2010
[3] La question allemande; www.lesechos.fr 30.04.2010
[4] Pondering the German Question; The New York Times 03.05.2010
[5] Will Germany now take centre stage? www.economist.com 21.10.2010
[6], [7] George Friedman: German Options After EU's Collapse; STRATFOR 25.05.2010
[8] s. dazu s. dazu Natürliche Modernisierungspartner und Die Wirtschaftsachse Berlin-Moskau (III)