Vor wenigen Tagen, in der Nacht zum 24. Oktober, wurde Kamal K. ermordet. Zwei Nazis haben den 19-Jährigen vor dem Hauptbahnhof mit einem Messer angegriffen und mehrfach auf ihn eingestochen. Kamal erlag kurze Zeit später im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Er ist nunmehr der sechste Mensch, der allein in Leipzig seit 1990 durch nazistisch und rassistisch motivierte Gewalt ums Leben gekommen ist, ein antifaschistisches Bündnis will nicht zulassen, dass Kamal hinter dieser traurigen Statistik verschwindet.
Was genau am 24. Oktober passierte ist bislang noch nicht ganz klar, in öffentlichen Berichten liest sich die Ermordung von Kamal wie folgt:
"Der 19-jährige Kamal K. war nach einem Discobesuch am Sonntagmorgen mit seiner Freundin und einem Bekannten in einer Parkanlage am Leipziger Hauptbahnhof unterwegs gewesen. Gegen 1.40 Uhr wurde er dort von den beiden Männern niedergeschlagen und mit einem Messer verletzt. Er konnte sich noch zur nächsten Straße schleppen, brach dort zusammen und starb wenig später im Krankenhaus."
In einer Pressemitteilung des sächsischen Ausländerbeauftragten, Martin Gillo, wird der Abend jedoch genauer geschildert, so heißt es in der Pressemitteilung vom 30.10.2010:
"In der Nacht vom Samstag auf Sonntag, den 24. Oktober 2010, war er mit seiner deutschen Freundin auf dem Weg nach Hause in einer "Wohnplatte" in der Nähe des Hauptbahnhofs, als er im Park vor dem Leipziger Hauptbahnhof einen Überfall von zwei Männern auf einen sechzehnjährigen Jungen bemerkte. Er trat mutig hinzu, um den Jungen zu retten und wurde sofort von den beiden Männern feige angegriffen und brutal erstochen. Seine Freundin und der überfallene Junge konnten die Täter gegenüber der Polizei identifizieren. Doch jegliche Hilfe kam für Kamal zu spät. Er erlag seinen schweren Wunden am nächsten Tag in der Universitätsklinik Leipzig."
Es wird wohl noch bis zum Gerichtsprozess dauern, bis alle Einzelheiten des Abend geklärt sind, eines steht jedoch fest, einer der Täter ist bekennender Neonazi. Zur Vorführung beim Haftrichter hatte sich der 28-Jährige Daniel K., einer der Täter, zum Schutz vor Fotografen einen Pullover über den Kopf gezogen, auf dem "Kick off Antifacism" stand.
Er war von 2002 bis 2007 in der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene aktiv. Der gebürtige Leipziger Daniel K. zog 2001 aus der Messestadt in die Region Aachen-Düren. Dort fand er wenig später Anschluss bei der militanten "Kameradschaft Aachener Land" (KAL). Beide Täter sind mehrfach vorbestraft. K. wurde im Februar 2007 wegen unterlassener Hilfeleistung rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt. Gemeinsam mit dem Anführer der "Kameradschaft Aachener Land" René L., hinderte Daniel K. damals einen anderen Kameraden nicht an der Misshandlung von dessen schwangerer Freundin. Im Juni 2007 verurteilte ihn das Landgericht Aachen wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren, 3 Monaten. Im Frühjahr 2010 wurde er nach Verbüßung eines Teils der Strafe aus der Haft erlassen.
Der zweite Täter, Marcus E., kann auf ein ähnliches langes Vorstrafenregister und jede Menge Hafterfahrung zurückblicken. Der 32 Jährige saß bereits mehrere Haftstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung, Einbruchsdiebstahls und Raubes ab. Zuletzt wurde er im Jahr 2002 durch das Landgericht Erfurt wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren, 6 Monaten verurteilt. Erst Mitte Oktober wurde er aus der Haft entlassen.
Heute (1.11.) wurde Kamal in Leipzig beerdigt. Zuvor zogen an die 500 Menschen in einem Gedenkmarsch vom Augustusplatz vorbei am Tatort im Müllerpark zum Nordfriedhof, darunter auch die Familie von Kamal. Auf dem Weg von der Innenstadt zum Friedhof skandierten sie immer wieder "Gerechtigkeit für Kamal". Als der Aufzug den Müllerpark erreichte, kam er kurz zum Stehen. Die Stimmung auf dem weiten Weg war vor allem von tiefer Trauer und Bestürzung geprägt. Es lag aber auch spürbar Wut in der Luft. Als ein Autofahrer "Scheiß Kanacken" in Richtung der Trauernden brüllt, geht die Polizei dazwischen um die Rassisten im Wagen zu schützen, als einige Menschen aus dem Gedenkzug Plastikflaschen werfen. Es blieb nicht nur bei dieser Pöbelei gegen den Zug der Trauernden, so wurde auch aus Fenster gerufen, dass die Menschen gefälligst "Deutsch" sprechen sollen. Die Polizei begleitet den Zug mit einem stärkeren Aufgebot und filmte ihn sogar schon ab, bevor es zu Zwischenfällen mit pöbelnden Rassisten kam.
Bereits am Mittwoch, den 27. Oktober, kam es zu einer Spontandemonstration von Antifaschist_innen zum Mord vom Kamal und den alltäglichen Rassismus in Leipzig. Ziel der ca. 180 Antifaschist_innen war das Redaktionsgebäude der "Leipziger Volkszeitung", jener Tageszeitung die durch ihre Berichterstattung erheblich zum rassistischen Klima beiträgt. So heißt es auch im Aufruf des "Initiativkreis Antirassismus“:
"Dieser Rassismus ist legal – nur wo er zu Mord und Totschlag übergeht, wird er geleugnet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben daher in den Tagen nach Kamals Ermordung beteuert, es lägen keine Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv vor. Tatsächlich sind die Täter der Polizei sehrwohl als „rechtsextrem“ bekannt. Ein Pressefoto zeigt einen der Mörder sogar mit einem Pullover mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Dass überhaupt zwei Deutsche des Nachts auf Ausländerjagd gehen, ist an sich gesehen scheinbar zu „gewöhnlich“, um schon als rassistisch gelten zu können. So jedenfalls sieht es die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die leider einzige örtliche Tageszeitung. Dort wurde der Versuch von Polizei und Staatsanwaltschaft unterstützt, die offenkundige Möglichkeit eines rassistischen Tatmotivs zu verschleiern. Stattdessen wurde am 26.10., zwei Tage nach dem Mord, deutlich darauf hingewiesen, dass „auch das Opfer“ kein „unbeschriebenes Blatt“, sondern „polizeibekannt“ sei. [5] Offenbar wollte die LVZ eine eigene Version des Tathergangs kolportieren: Wenn sich Täter und Opfer tief in der Nacht vor dem Hauptbahnhof begegnen, könnte es ein Streit unter Kriminellen gewesen sein… Dem ist aber nicht so: Kamal wohnt unweit des Hauptbahnhofs, er war auf dem Heimweg von einer Disko. Der „kriminelle“ Hintergrund ist eine Erfindung der LVZ, die aus dem verbreiteten Vorurteil, Ausländer_innen seien per se kriminell, druckreife Fakten produziert. [6]
Im Übrigen bedarf es eines besonders verhärteten Zynismus, einen rassistischen Mord mit dem Hinweis verharmlosen zu wollen, es seien „Kriminelle“ involviert gewesen, die Tat habe also „den Richtigen“ getroffen. Die Redakteur_innen der LVZ wissen sich hier im Einklang mit ihren Leser_innen, die deren Brand-Sätze in den Kommentarspalten sogleich in die ebenso frei erfundene These über angebliches „Drogenmilieu“ gesteigert haben. Nicht ungewöhnlich für die LVZ: Ende August wurde Sarrazin auf Seite 1 gehoben und vom Leitartikler mit den Worten gelobt, er argumentiere „nie in Stammtischmanier dumpf aus dem hohlen Bauch heraus, sondern beschreibt nur ungeschminkt und mit Fakten untermauert unbequeme Wahrheiten.“ [7] Dass Sarrazin mit allem „Recht hat“, bestätigten sogleich 99 Prozent (!) der LVZ-Leser_innen in einer Telefonumfrage. [8] Im Rahmen dieser Debatte hat die LVZ auch dem Moslem-Hasser und national-konservativen Publizisten Udo Ulfkotte ein Interview und damit Platz für die versprochenen rassistischen „Wahrheiten“ eingeräumt. [9]
Was in der Presse so gut wie nie auftaucht, ist eine Auseinandersetzung mit dem rassistisch geprägten Alltag, den Migrant_innen auch in Leipzig durchleben. Nur ein Beispiel sind die Planungen der Stadt aus dem vergangenen Jahr, im Stadtteil Thekla ein neues Asylbewerber_innen-Heim einzurichten. Dessen Standort sollte – laut Stadtratsmehrheit – nach explizit rassistischen Gesichtspunkten ausgewählt werden: Die Bewohner_innen sollten fernab kultureller, sozialer und Bildungseinrichtungen, außerhalb von Wohngebieten und urbanen Zentren massenhaft in „Wohncontainern“ untergebracht werden. Dagegen regte sich Protest [10] – der Plan scheiterte letztlich aber daran, dass der Stadt alle eingeholten Angebote zu teuer waren."
Dieser Initiativkreis plant auch für den kommenden Donnerstag, den 4. November, eine Demonstration unter dem Motto: "Angst und Trauer überwinden – Zusammen gegen Rassismus kämpfen“ um 17:30 Uhr vom Südplatz.
Mit der Demonstration will der Initiativkreis an Kamal erinnern und die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Migrant_innen in Leipzig tagtäglich von Ausgrenzung betroffen sind. Das Problem heißt Rassismus. Dazu zählen aber nicht nur Neonazis, die auf Ausländerhatz gehen, sondern auch die Diskriminierung in Behörden, ausländerfeindliche Gesetze und abwertende Alltagspraxen einiger Teile der hiesigen Bevölkerung.
Weitere Morde von Nazis in Leipzig
Kamal ist der 6. Mensch der von Nazis in Leipzig ermordet wurde. Am 23. August 2008 wurde Karl-Heinz T. nicht weit entfernt von jener Stelle ermordet, an dem auch Kamal starb. Passanten hatten Karl-Heinz T. nach Polizeiangaben am Morgen des 23.August gegen 7.30 Uhr auf einer Parkbank am Schwanenteich bei der Oper entdeckt. Der 59-jährigen Obdachlose war bewusstlos und vom Regen durchnässt. Bei ihm wurden lebensgefährliche Verletzungen am Kopf festgestellt, er war deshalb ins Universitätsklinikum eingeliefert worden.
Knapp eine Woche später, am 29.August, nahm die Polizei einen aus dem Leipziger Umland stammenden 18-Jährigen fest. Dieser gab in einer ersten Vernehmung die Gewalttat gegen den Obdachlosen zu. Die Staatsanwaltschaft ging davon aus, dass der Obdachlose heimtückisch im Schlaf überfallen wurde. Neben den Kopfverletzungen wurden ihm auch Prellungen am ganzen Körper zugefügt. In der Anklageschrift ist von Brüchen im Gesicht, einer Halswirbelfraktur sowie Hirnquetschungen und -blutungen die Rede. Dass die Polizei dem Übergriff auf einen Obdachlosen zunächst keinen hohen Stellenwert einräumte, darauf lässt die Aussage einer Zeugin am zweiten Prozesstag schließen. Die Studentin hatte den leblosen Mann am Morgen entdeckt und gegen 6 Uhr die Polizei im nahen Innenstadtrevier verständigt. Die Beamten zeigten allerdings kein großes Interesse an ihrer über die Gegensprechanlage geäußerten Meldung. Sie sei nicht mal hereingebeten worden und musste auch nicht ihre Personalien angeben, so die Zeugin vor Gericht. Erst anderhalb Stunden später schickte die Behörde jemanden zum Nachschauen von der Ritterstraße an den Schwanenteich. Das bezeichnet selbst die LVZ als "merkwürdig". Für die zuständigen Beamten scheint dieses Verhalten jedoch keine Konsequenzen zu haben.
Weitere von Nazis Ermordete in Leipzig:
Klaus R., 43 Jahre alt. Er wurde am 28. Mai 1994 von einer Gruppe von Sechs Nazis in seiner Wohnung über mehrere Stunden Misshandelt und schließlich zu Tode geprügelt.
Bernd G., 43 Jahre alt. Er wurde am 8. Mai 1996 in Leipzig-Wahren nach einer Sauftour von drei Rechtsextremisten auf brutalste Weise von ihnen zusammengeschlagen und erstochen. Die Leiche versenkten die drei Täter im Ammelshainer See, wo sie eine Woche später gefunden wurde. Die Nazis brachten Bernd G. um weil er homosexuell war.
Achmed B., 30 Jahre alt. Er wurde am 23. Oktober 1996 auf der Karl-Liebknecht Straße (Südvorstadt) vor einem Gemüseladen durch einen Messerstich ins Herz getötet, als er seinen zwei "deutschen" Kolleginnen zu Hilfe kommen wollte, die von zwei Nazis attackiert und als »Türkenschlampen« bezeichnet worden waren. Die beiden Nazis waren den ganzen Tag schon unterwegs und bedrohten mehrmals mit ihrem Messer Menschen, bis sie schließlich B. ermordeten.
Nuno L., 49 Jahre alt. Am 4. Juli 1998 wurde er von acht Männern im Alter zwischen 18 und 20 Jahren in Leipzig zusammengeschlagen. Er starb am 29. Dezember 1998 in Portugal an den Folgen der Verletzungen. Die Täter gaben vor der Tat an, dass sie sich aufmachen wollten, um "Ausländer hacken" zu gehen. Grund war ein verlorenes Deutschlandspiel gegen Kroatien.
Ein Bericht zu dem Mord aus dem Jahre 1998 und zu dem Versuch der Regierung Morde durch Nazis zu vertuschen findet sich hier:
Die verschwiegenen Toten - Behörden vertuschen Ausmaß der rechtsradikalen Gewalt
Eine Überischt zu den durch Nazis ermordeten Menschen in Deutschland findet sich hier:
Todesopfer rechter Gewalt 1990 - 2010
Erinnert sei auch an Marwa El-Sherbini, die in Dresden von einem Ausländerhasser erstochen wurde. Wie damals will auch heute die örtliche Presse zum Mord an Kamal, nichts von einem rassistischen Tatmotiv wissen.
Am 1. Juli 2009 wurde Marwa El-Sherbini im Amtsgericht Dresden auf grausame Weise getötet. Marwa, bekennende Muslima aus Dresden, zeigte einen Neonazi an als dieser sie als „Terroristin“, „Islamistin“ und „Moslemschlampe“ beschimpft hatte. Das Amtsgericht Dresden verurteilte Alex W. zu einer Geldstrafe gegen die er später in Revision ging. Als es dort zur Hauptverhandlung kam, bei welcher auch Marwa als Zeugin vorgeladen war, ereignete sich der rassistische und brutale Mord. Der Neonazi stürmte mit den Worten „Du hast kein Recht zu leben!“ auf Marwa zu und erstach sie mit 16 Messerstichen. Als der Ehemann versuchte ihr zur Hilfe zu kommen wurde dieser von einstürmenden Polizisten angeschossen. Marwa, welche ein dreimonatige altes Kind im Brauch trug, erlag ihren Verletzungen noch im Gerichtssaal. Ihr Mann konnte nur durch die schnellen Hilfsmaßnahmen des Anwalts vor dem Tod bewahrt werden. Der dreijährige Sohn wurde Zeuge dieser grausamen Taten.
Pressespiegel zum Mord an Kamal:
Pressespiegel
Alle weiteren Informationen zur Demonstration am 4. November:
Initiativkreis Antirassismus
Kampagne zur Erinnerung an jene Menschen, die von Nazis Weltweit ermordet wurden:
Siempre Antifascista