Ein Stück Volksverdummung

Erstveröffentlicht: 
01.07.2010
BERLIN (Eigener Bericht) - Die Bundesfamilienministerin wünscht eine Fortdauer des anlässlich der Fußball-WM erstarkenden Nationalismus in der deutschen Bevölkerung. Das "Schöne an der Weltmeisterschaft" sehe sie vor allem darin, "dass ein unverkrampfter Patriotismus möglich" sei, erklärt Kristina Schröder im Hinblick auf die dominierende Präsenz von Deutschlandfahnen aller Art in der Öffentlichkeit. Sie hoffe nun, dass "dieses Gefühl auch über die WM hinaus" bestehen bleibe. Die Äußerungen der Ministerin werden von einem Konsens nicht nur der Berliner Politik, sondern auch sämtlicher deutscher Massenmedien inklusive ihrer liberalen Segmente getragen, in denen die Identifikation mit der deutschen Mannschaft und eine negative Abgrenzung gegenüber Teams aus anderen Staaten mittlerweile zum guten Ton gehören - missbilligendes Unverständnis gegenüber kritischen Positionen immer häufiger eingeschlossen. Auf lokaler Ebene kommt es zu ersten Kampagnen gegen Organisationen, die sich dem aufbrausenden Nationalismus verweigern. Prominente Sozialwissenschaftler warnen seit Jahren, der angeblich harmlose "Partypatriotismus" sei durchaus gefährlich und schüre rassistische Ressentiments.

 


Nicht der Bessere, sondern Deutschland
Wie Bundesfamilienministerin Kristina Schröder in einem aktuellen Presseinterview erklärt, hoffe sie, dass der anlässlich der Fußball-WM in der deutschen Bevölkerung erstarkende Nationalismus "auch über die WM hinaus" Bestand habe.[1] Es sei "heute kein Problem mehr, wenn man sich die Deutschland-Farben auf die Wange malt oder ein Fähnchen ans Auto hängt", äußert Frau Schröder: Ein "unverkrampfter Patriotismus" sei "typisch für unsere Generation". Die Familienministerin ist 32 Jahre alt und verkörpert die kommende Generation des Berliner Polit-Establishments. Über den angeblich "unverkrampften Patriotismus" sagt sie, er sei "kein Nationalismus der abgrenzt, sondern ein positives, einladendes Gefühl". Auf die Frage, ob bei der Fußball-WM "der Bessere" oder "auf jeden Fall Deutschland" gewinnen solle, antwortet die Ministerin ("positiv, einladend"): "Natürlich Deutschland. Ganz klar!"


Flächendeckender Konsens
Die Äußerungen der Ministerin werden von einem Konsens nicht nur der Berliner Politik, sondern auch sämtlicher deutscher Massenmedien inklusive ihrer liberalen Segmente getragen, in denen die Identifikation mit der deutschen Mannschaft sowie eine Abgrenzung gegenüber Teams aus anderen Staaten inzwischen zum guten Ton gehört. Dass das massenhafte Schwenken schwarz-rot-goldener Fahnen Nationalismus sei, sei "Unfug", befindet der Feuilletonchef der Wochenzeitung "Die Zeit": "Nationalismus" zeige sich woanders, "bei Neonazis".[2] "Natürlich" sei man "für Deutschland", heißt es flächendeckend in populären Sendungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Die durchweg positive Bewertung der Deutschland-Begeisterung schließt an Urteile führender Politiker aus dem Jahr 2006 an. Anlässlich der damaligen Fußball-WM wurden Nationalsymbole zum ersten Mal seit Bestehen der Bundesrepublik zum dominierenden Identifikationsmerkmal im gesamten öffentlichen Raum. Man schmücke sich heute "unverkrampfter" mit der deutschen Fahne, lobte damals Bundespräsident Horst Köhler. Man könne nun endlich mit Nationalsymbolen feiern, "ohne dass daraus ein Vorwurf entsteht", erklärte die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Renate Künast.[3]


Gefährlicher Unsinn
Die Folgen des gern als "Partypatriotismus" verharmlosten Fußball-Nationalismus hat schon Ende 2006 eine wissenschaftliche Analyse nachgewiesen, die von dem prominenten Soziologen Wilhelm Heitmeyer publiziert worden ist. Wie die Autoren belegen, ist während der Fußball-WM 2006 ein "Anstieg des Nationalismus" zu verzeichnen gewesen; dabei führe die "nationale Identifikation mit Gesamtdeutschland" ungebrochen zu einer Abwertung etwa von Migranten.[4] Heitmeyer zufolge ist die These, die Fußball-WM habe einen "toleranten Patriotismus" hervorgebracht, "gefährlicher Unsinn, ein Stück Volksverdummung".[5] Die Autoren der Analyse warnen ausdrücklich, es sei "in jedem Fall (...) davon abzuraten, das Land (...) unter Mithilfe der Massenmedien mit Identitäts- und Patriotismuskampagnen zu überziehen".[6] Der "Vorwurf eines mangelnden Patriotismus", heißt es weiter, könne sogar "zum innergesellschaftlichen Kampf- und Ausgrenzungsbegriff werden".


"Deutschland-Hasser"
Genau dies tritt inzwischen ein. Nannte eines der großen deutschen Nachrichtenmagazine Kritiker des Fußball-Nationalismus schon bei der EM im Jahr 2008 "Deutschland-Hasser", findet dieser im gesellschaftlichen Alltagsleben immer häufiger zu hörende Begriff inzwischen Anwendung in der Boulevardpresse. "Deutschland-Hasser terrorisieren Fußball-Fans", titelte zu Wochenbeginn eine Zeitung in der deutschen Hauptstadt anlässlich von Streitigkeiten um eine öffentlich plazierte, 100 Quadratmeter große Deutschlandfahne.[7] Auf lokaler Ebene starten die ersten Kampagnen gegen Organisationen, die sich dem erstarkenden Nationalismus verweigern. So berichten Medien im ostdeutschen Rostock von "Wirbel um ein alternatives Public Viewing".[8] "Fans mit Flaggen" solle "die Tür gewiesen worden sein", heißt es empört; der Veranstalter, ein Kulturzentrum, habe seinem Fernsehpublikum das Zeigen nationaler Symbole untersagen wollen und sei deswegen "in die Kritik geraten". Forderungen nach einer Streichung öffentlicher Zuschüsse für die Einrichtung und nach der Schließung des Hauses werden laut. "Es sagt viel über die Friedlichkeit und Toleranz des neuen Nationalismus aus", urteilt ein Rostocker Beobachter, "wenn seine Anhänger sofort jene brandmarken, die sich ihm verweigern".[9]


Innere Formierung
Bereits 2006 urteilte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, mit Hilfe des von Politik und Medien kräftig geförderten Nationalismus sollten "jene Angehörige der Mehrheitsgesellschaft emotional wieder integriert werden, die andererseits sozial desintegriert worden sind".[10] Erst kürzlich hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer detaillierten Studie belegt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland deutlich wächst und eine Spaltung der Gesellschaft erkennbar wird.[11] Hilfreich ist der erstarkende Nationalismus allerdings auch für die in alle Welt ausgreifende deutsche Außenpolitik. Im Frühjahr hat ein einst einflussreicher CDU-Außenpolitiker gewarnt, es stehe "eine neue Ära des Imperialismus" bevor; mit ihm kehrten der Kolonialismus und der Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurück.[12] Wenig später wies ein deutscher Politikberater auf eine aktuelle Debatte im Berliner Polit-Establishment hin, bei der die Einführung diktatorischer Elemente zur Stärkung der Bundesrepublik in der weltweiten Konkurrenz im Mittelpunkt steht.[13] Der aktuell rapide erstarkende Nationalismus begünstigt die innere Formierung Deutschlands zur in aller Welt interventionsfähigen Macht - mit oder ohne diktatorische Elemente.
[1] "WM-Erfolg lässt Geburten steigen"; www.rp-online.de 26.06.2010
[2] Jens Jessen: Schwarz-Rot-Goldene Begeisterung; www.zeit.de 15.06.2010
[3] Köhler und Künast erfreut über Fahnenmeer; www.spiegel.de 18.06.2010
[4] Julia Becker, Ulrich Wagner, Oliver Christ: Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt am Main 2007
[5] Fußballtaumel und Fremdenfeindlichkeit; Süddeutsche Zeitung 15.12.2006
[6] Julia Becker, Ulrich Wagner, Oliver Christ: Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt am Main 2007
[7] Deutschland-Hasser terrorisieren Fußball-Fans; www.berlinonline.de 29.06.2010
[8] Public Viewing: Flaggen und Polizisten verboten? www.ostsee-zeitung.de 25.06.2010
[9] Nationalismus: Wer nicht mitmacht, wird geächtet? www.ostsee-zeitung.de 26.06.2010
[10] Fußballtaumel und Fremdenfeindlichkeit; Süddeutsche Zeitung 15.12.2006
[11] s. dazu Neue Armut
[12] s. dazu Eine neue Ära des Imperialismus
[13] s. dazu Ein klein wenig Diktatur