Warum starb Hussam Fadl?

Erstveröffentlicht: 
15.08.2017

Deutschland In Berlin wurde ein Geflüchteter von der Polizei erschossen - Aktivist_innen bezweifeln eine Notwehrsituation

 

Von Kat Voskuhl

 

»Wir sind vor dem Tod geflohen und fanden nichts als den Tod«, fasst Zaman Gate ihre Geschichte zusammen. Sie ist die Ehefrau des am 27. September 2016 von hinten durch Polizist_innen erschossenen Hussam Fadl. An diesem Montag, den 10. Juli, haben sich vor dem Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke um die 50 Menschen zu einer Kundgebung eingefunden. Organisiert hat sie die Kampagne »Gerechtigkeit für Hussam Fadl«, an der Zaman Gate, die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP), der Flüchtlingsrat Berlin und die Beratungsstelle für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ReachOut beteiligt sind. Auf der Pressekonferenz am Morgen wurde bereits die lückenlose Aufklärung des Todes von Hussam Fadl und die juristische Verfolgung der verantwortlichen Polizist_innen gefordert.

 

Ein einzelner Polizist in Warnweste und mit Klemmbrett schaut sich interessiert auf dem Platz um, ein paar Meter weiter stehen Polizeiwannen mit Polizeibeamt_innen. Der Lautsprecherwagen trifft ein, die Wolkendecke ist dicht und grau. Bald folgt ein Redebeitrag dem nächsten. Zaman Gate berichtet, wie sie im September letzten Jahres mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in einer Traglufthalle lebte. Der »Ballon« ist eine Notunterkunft für Geflüchtete in Berlin-Moabit. Dann wurde eines ihrer Kinder in der Unterkunft missbraucht. Zwei Bewohner der Unterkunft entdeckten den mittlerweile verurteilten Mann bei der Tat und übergaben ihn an das Securitypersonal. Augenzeug_innen berichten, dass daraufhin mehr als 30 Polizist_innen anrückten, das Gelände umstellten und sich niemand mehr dort frei bewegen durfte.

 

Der Mann, der das Kind missbraucht hatte, saß bereits im verschlossenen Polizeiwagen, als Hussam Fadl auf diesen mit einem Küchenmesser bewaffnet zugerannt sein soll - so steht es in den offiziellen Polizeiberichten. Dann trafen drei Schüsse aus drei unterschiedlichen Waffen Fadl von hinten, einer davon tödlich. Zeug_innen des Geschehens waren unter anderem Kinder. 

 

Die Ermittlungen wurden rasch eingestellt


Im Juni 2016 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen mit dem Hinweis auf Notwehr ein. Katharina Mühlbeyer vom Berliner Flüchtlingsrat Berlin sieht darin einen »Skandal« und erzählt: »Bewohner der Unterkunft haben mich gefragt: Ist das so in Deutschland? Darf auf uns Flüchtlinge geschossen werden?« Biplab Basu von ReachOut hat mit mehreren Bewohner_innen wenige Tage nach der Tat gesprochen und berichtet: »Sie haben kein Messer bei Hussam Fadl gesehen.« Der Beamte, der Fadl im Moment der Schüsse am nächsten war, und dem Fadl praktisch auf die Füße fiel, habe ihn umgedreht, um zu sehen, ob der Mann verletzt wurde. Nach eigener Aussage sah er Blut, aber kein Messer.

 

Auch aufgrund dieser widersprüchlichen Aussagen steht die Kampagne solidarisch an der Seite der Familie Fadl. Solange eine Untersuchung nicht das Gegenteil beweise, gehe man davon aus, dass es kein Messer gab - und damit auch keine Notwehrsituation gegeben war. Allerdings: Selbst wenn Fadl ein Messer bei sich gehabt hätte, wäre der tödliche Schuss zu untersuchen. Warum wurde beispielsweise nicht in sein Bein geschossen statt ihn direkt tödlich zu verletzen?

 

Die spärliche Berichterstattung in den Medien übernahm zunächst die polizeiliche Darstellung. Das stereotype und rassistische Bild des »aggressiven, mit einem Messer bewaffneten Arabers«, so Laura Janßen von KOP, werde von Zeitungen und Leser_innen nicht hinterfragt. Zur polizeilichen Version des Vorgangs gab es auch deshalb kaum öffentliche Gegendarstellungen. Die Kampagne »Gerechtigkeit für Hussam Fadl« geht von einem rassistischen Hintergrund aus, denn Fadls Tod sei »nur die Spitze des Eisbergs rassistischer Gewalt durch die Polizei«, so Janßen. Sie erzählt von anderen durch die Polizei getöteten Personen und macht klar: Selbst wenn es in solchen Fällen zu einer Verhandlung kommt, wird von Einzelfällen ausgegangen. Institutioneller Rassismus heißt auch, dass die Taten durch den Korpsgeist im Polizeiapparat geschützt sind, durch das Wir-Gefühl derer, die intern ermitteln und Aussagen aufnehmen, wenn ein Mensch bei einem Polizeieinsatz ums Leben kommt. Eine unabhängige Untersuchungs- oder Beschwerdestelle gibt es nicht.

 

Bereits auf der Pressekonferenz am Morgen dieses Montags erzählt Zaman Gate mit kräftiger Stimme. Ihr Blick wandert immer wieder vom Notizzettel zu den Augen der Zuhörenden. Aus der Übersetzung erfahren sie, dass ihr Mann 2014 im Irak selbst Polizist war. Weil sein Leben in Gefahr war, floh die Familie, zunächst in die Türkei. Nach eineinhalb Jahren brachen sie zu einem qualvollen Weg nach Deutschland auf, der fast fünf Monate dauern sollte. Im Juni 2016 erreichten sie Berlin und wurden im »Ballon« untergebracht. Die Einrichtung hatte der Flüchtlingsrat bereits im Herbst 2014 kritisiert: Unterbringung ohne Privatsphäre, nicht abschließbare Räume, Zwangsverpflegung. Anfangs war der »Ballon« nur als Übergangsort für zwei bis drei Tage gedacht, doch die meisten Geflüchteten lebten nicht weniger als ein Jahr dort. Auch Zaman Gate berichtet, dass besonders die Kinder eine harte Zeit hatten, einander Fremde in einem Raum untergebracht und Familien auseinander gerissen wurden. Vier Monate lebte Gate mit ihren Kindern in der Notunterkunft, bis sie die Traglufthalle verlassen konnten. Noch immer wohnen sie in einer Unterkunft für Geflüchtete, wünschen sich eine eigene Wohnung, um Ruhe zu finden und endlich anzukommen. 

 

Die Familie musste aus dem Irak fliehen


»So viel auf einmal. Traumatisierte Kinder. Eine missbrauchte Tochter. Ein getöteter Ehemann.« Nach ihrer Erklärung auf der Pressekonferenz senkt sich Zaman Gates Blick. Sie strahlt tiefe Trauer, Müdigkeit, Fassungslosigkeit aus. Nach dem Tod ihres Mannes muss sie nun auch um ihr Aufenthaltsrecht und das der Kinder kämpfen. Dieses war an Hussam Fadl gebunden. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis verschafft ihr vorerst Luft, aber die Kampagne fordert ein sicheres Aufenthaltsrecht für die Familie sowie Familiennachzug.

 

Am Ende bleiben viele Fragen offen: Der Mann, den die Polizei beschützt haben will, saß in einem geschlossenen Auto. Warum sind geschulte Polizist_innen nicht in der Lage, einen Menschen ohne tödliche Gewalt festzuhalten? Warum kam die Polizei überhaupt mit einem solchen Aufgebot an Polizeikräften? Welche Bilder gab es in den Köpfen der Beamt_innen? Was erwarteten sie vorzufinden?

 

Der letzte Redebeitrag bei der Kundgebung am Platz der Luftbrücke ist beendet. Die Menschenmenge tauscht sich aus. Dann fängt es fängt wieder an zu regnen, die Versammlung löst sich auf.

 

Kat Voskuhl studiert Jura in Berlin und ist aktiv bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP).