Für den G20-Gipfel kündigte der Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde den Einsatz von "allem, was Polizeien so besitzen", an. Bisher war nicht bekannt, dass hierzu auch Gummigeschosse gehören
Mehrere Bundesländer planten in den 80er Jahren die Anschaffung von Gummigeschossen für ihre Polizeien. Sie sollten den Beamten einen Vorteil bei den teilweise heftigen Auseinandersetzungen wie in Wackersdorf verschaffen. Entsprechende Überlegungen existierten beispielsweise in Baden-Württemberg und in Bayern im damaligen Kabinett von Franz-Josef Strauß. Die Innenministerkonferenz hatten einem Bericht des Spiegel zufolge beim Rüstungskonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm eine Studie zur Entwicklung eines polizeilichen "Wirkwurfkörpers" bestellt. Als mögliche Varianten galten großkaibrige Gummipatronen oder Gummischrot.
Schließlich entschied sich die Innenministerkonferenz jedoch, die neue Bewaffnung in Deutschland nicht einzuführen. Befürchtet wurde, dass die Streubreite der Munition zu groß sei. Weder kann genau auf eine Körperpartie gezielt werden, noch ist ausgeschlossen dass Unbeteiligte getroffen werden. Ähnlich hatte sich damals auch das Europaparlament 1982 und 1984 in zwei Entschließungen geäußert. In den meisten EU-Mitgliedstaaten werden seitdem keine Gummigeschosse eingesetzt, Ausnahmen bilden die Schweiz, Spanien und Nordirland.
Gummigeschosse sind Schusswaffen
Trotz einer fehlenden gesetzlichen Bestimmung haben Polizeikräfte beim G20-Gipfel in Hamburg mit Gummigeschossen auf Personen gefeuert. Der Vorfall wurde erst wenige Tage nach dem Gipfel im Hamburger Innenausschuss öffentlich. Demnach hatte ein Spezialeinsatzkommando (SEK) kurz vor Mitternacht auf Personen auf dem Dach des Hauses Schulterblatt 1 geschossen. Es sei nicht auf Personen, "sondern gezielt die Dachkante" beschossen worden. Dort befindliche "Störer und Gewalttäter" seien außerdem mit Ziellasern von Maschinenpistolen "ganz gezielt bedroht" worden, bevor die SEK-Kräfte in das Gebäude eindrangen.
Der Einsatz sei notwendig gewesen, da die Polizeieinheiten "in einen Hinterhalt gelockt" worden seien, um sie dann von oben mit "Molotowcocktails, Gehwegplatten, Steinen, Eisenstangen und so weiter" zu bewerfen. Belege gibt es dazu nicht, nach der Stürmung der Dächer fanden sich Medienberichten zufolge jedenfalls keine Wurfmaterialien.
Die Schüsse wurden aus "40-mm-Waffen" abgegeben. Gemeint ist vermutlich die von Heckler & Koch hergestellte Granatpistole "HK69", die bei der Polizei als "Mehrzweckpistole" (MZP 1) bezeichnet wird. Damit können unter anderem Leuchtmunition, Blendgranaten oder Tränengas abgeschossen werden. Es ist nicht bekannt, welchen Typ von Gummigeschossen die Einheiten eingesetzt haben. Möglich wären auch Plastikgeschosse, die bis Ende der 80er Jahre in Nordirland für bis zu 30 Tote gesorgt hatten.
Gummigeschosse sind keine polizeilichen "Hilfsmittel" wie etwa Pfefferspray oder CS-Gas, sie gehören in die Kategorie der Schusswaffen. Der Einsatz von Schusswaffen ist in den Landespolizeigesetzen und im Bundesgesetz als Anwendung von "unmittelbarem Zwang" geregelt. In vielen Bundesländern werden die hierzu erlaubten Waffen benannt. Im Hamburger Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind dies der Schlagstock, Taser, Pistolen, Revolver, Gewehre und Maschinenpistolen.
Freigabe auch für Sprengmittel und Türöffnungsmunition
Die rechtliche Grundlage des Einsatzes ist völlig unklar.1 Die Pressestelle der Hamburger Polizei teilt dazu mit, dass sie "zur Gefahrenprävention" abgefeuert wurden. Allerdings heißt es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, dass den SEK-Einheiten "keine Freigabe des Schusswaffengebrauchs gegen Personen" erteilt worden sei. Die Abgabe von Schüssen wäre also nur in einer Bedrohungssituation erlaubt.
Im Rahmen der "Einsatzlage im Schulterblatt" waren SEKs aus Bayern, Hamburg, Hessen, Sachsen und Österreich eingesetzt. Vermutet wird, dass entweder das sächsische SEK oder die österreichischen Einheiten die Munition mitführten. Sie wären dabei an das Hamburger Gesetz gebunden. Dort ist auch der Schusswaffengebrauch gegen Personen in einer Menschenmenge bestimmt. Dieser ist demnach unzulässig, "wenn erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden".
Bei der Rückeroberung des Schanzenviertels wurden Schusswaffen nicht nur gegen Personen eingesetzt. Kurz nach Mitternacht erhielten die Einsatzkräfte vom Gesamteinsatzleiter Hartmut Dudde die "Freigabe aller erforderlichen Einsatzmittel zum Öffnen von Türen". Hierzu gehörten auch Sprengmittel, die allerdings nicht zum Zuge kamen. Als "Türöffnungsmunition" hatten die Einheiten Schrotflinten mit Zinkstaub-Munition genutzt.
Schusswaffengebrauch auf der Straße erwogen
Die Spezialeinsatzkommandos beim G20-Gipfel wurden von dem Hannoveraner Polizist Michael Zorn koordiniert. Seinem Einsatzabschnitt "Intervention" unterstanden 600 SEK-Beamte aller Bundesländer, zwei mobile Einsatzkommandos (MEK) und Kräfte des österreichischen Kommandos Cobra. Nach den Ausschreitungen im Schanzenviertel wurden die SEK um weitere 74 Einsatzkräfte, darunter auch der Bundespolizei, aufgestockt.
Am Abend des 7. Juli war Zorn mit bis zu 110 Beamten im Schanzenviertel unterwegs. Mit dabei waren die neuen "BFE Plus"-Einheiten der Bundespolizei, die ähnlich wie die GSG 9 aufgestellt sind und mit der Truppe auch gut zusammenarbeiten. Im Innenausschuss wurde jetzt bekannt, dass die Polizei in der von Barrikaden gesäumten Straße Schulterblatt erwog, auf Protestierende schießen zu müssen. Zorn zufolge habe der Gesamteinsatzleiter in einem Gespräch "nicht ausgeschlossen, dass, würde er zu einem Vorrücken gezwungen sein, es zu einem Schusswaffengebrauch kommen könnte".