G-20-Gewalt: Was das Verfassungsschutzpapier „SAW Störtebeker“ dem Kanzleramt verriet

Erstveröffentlicht: 
14.07.2017

Kanzleramt und Hamburger Senat wurden kurz vor dem G-20-Gipfel über eine mögliche „Eskalation der Straßenmilitanz“ informiert. Durch den brisanten Inhalt des vertraulichen Berichts hätten sie gewarnt sein können.

 

Von Stefan Aust, Martin Lutz

 

Im Rathaus von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), im Bundeskanzleramt und in mehreren Ministerien lag wenige Tage vor dem G-20-Gipfel ein brisanter „Lagebericht“ auf dem Tisch. Das vertrauliche 31-Seiten-Papier des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) trägt das Datum 2. Juli und die Kennung „SAW Störtebeker“. Vier Tage später reisten die Staats- und Regierungschefs an.

Gleich auf der ersten Seite warnt die Behörde deutlich vor militanten Aktionen: „Die Ergebnisse von polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen im Vorfeld der Proteste zeigen, dass sich die gewaltbereite linksextremistische Szene gezielt auf militante Aktionen vorbereitet.“ Die bereits zu diesem Zeitpunkt sichergestellten Gegenstände gäben einen Überblick über die Tatwerkzeuge und Aktionsformen, die bei den Protesten eine Rolle spielen könnten.

Diese Information in dem Bericht mit der „Folgenummer 16“ war zwar recht neu. Aber sie kam noch so rechtzeitig, dass die Politiker eigentlich genau gewusst haben sollten, was auf die Hansestadt zukommt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich bereits im Februar 2016 für Hamburg entschieden, Scholz noch kurz vor dem Gipfel eine Sicherheitsgarantie abgegeben.

„Seien Sie unbesorgt: Wir können die Sicherheit garantieren“, hatte der Sozialdemokrat noch Anfang Juli dem Berliner „Tagesspiegel“ gesagt. Nachdem die Polizei die schweren Ausschreitungen dann doch nicht verhindern konnte, entschuldigte sich der Bürgermeister: Es sei trotz aller Vorbereitungen nicht durchweg gelungen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. „Dafür, dass das geschehen ist, bitte ich die Hamburgerinnen und Hamburger um Entschuldigung.“ Im Nachhinein sei klar, dass die Sicherheitsbemühungen nicht gereicht hätten, um einer neuen Dimension der Gewalt Herr zu werden und Straftaten zu vereiteln.

Nur: War diese Dimension tatsächlich so neu, so überraschend?

Dass Hamburg zu einem Magneten für die militante Szene aus ganz Europa werden würde, war den Verfassungsschützern klar. Darüber hatte im Vorfeld des Gipfels auch die WELT mehrfach berichtet. Weniger bekannt ist, dass die Sicherheitsbehörden außer Linksextremisten aus dem In- und Ausland auch gewaltbereite Hooligans und Mitglieder der sogenannten Ultraszene erwarteten. „Nationale und internationale Hooligan-Gruppen sollen ab dem 5. Juli für die Zeit des G-20-Gipfels Anreisen nach Hamburg planen“, heißt es in dem Lagebericht. Außerdem reisten Aktivisten eigenständig in die Stadt an der Elbe, um Grenzkontrollen zu umgehen. Also individuell und unauffällig.

Dem BfV lagen unter Bezug auf die Autonomous Revolutionary Nordic Alliance dem Bericht zufolge konkrete Hinweise vor, dass etwa 500 Gipfelgegner aus Skandinavien in Hamburg Krawall machen könnten. Diese wollten „während der Block-G20-Aktionen in militanten Kleingruppen agieren“, so die Analyse. Darin wird betont: „Man beabsichtige, in unauffälliger Kleidung anzureisen, während man szenetypische schwarze Kleidung sowie Stahlruten im Rucksack mitführe.“ Über Kontaktpersonen der Hamburger Szene würden die Skandinavier vor Ort möglicherweise weiter ausgestattet – etwa mit Pyrotechnik. Kommuniziert werde über den Messenger-Dienst Signal.

Verstärkung sollte die Hamburger autonome Szene laut Verfassungsschutz aus Belgien, Dänemark, Italien, Frankreich, Großbritannien, Holland, Polen, Slowenien, Spanien und Tschechien erhalten. In der Schweiz, so der Bericht, habe zum Beispiel das autonome Zentrum Reitschule in Bern mobilisiert. Im Internet hätten „revolutionäre Gruppen gegen G 20“ aufgerufen – zum Beispiel das Réseau d’Agitation Genève aus Genf. Aus Italien sei die Anreise der gewaltbereiten Gruppe Autonomia Diffusa zu befürchten, die bereits während der Expo 2015 in Mailand die Ausschreitungen anführte. Auch sie koordiniere sich mithilfe eines verschlüsselten Messenger-Dienstes, Telegram. Ferner hatten die Verfassungsschützer eine Handvoll linksextremistischer Gruppierungen aus Belgien auf dem Schirm, darunter aus Antwerpen und Brüssel.

Zu der Hamburger Demonstration am 6. Juli unter dem Motto „Welcome to Hell“ stellte der Lagebericht fest: „Es ist mit einem gezielten Angriff auf die Polizei durch mindestens einen Demonstrationsblock zu rechnen.“ Verabredet sei, eine bestimmte einheitliche Kleidung zu tragen: schwarze Turnschuhe mit weißer Sohle, dunkelblaue Jeans ohne Zierwaschung und Löcher. Dazu jeweils in schwarzer Farbe: Langarm-T-Shirt der Bundeswehr, Sturmhaube mit zwei Augenlöchern und ein faltbarer Sommerhut.


Warnung vor Waffen – die später eingesetzt wurden

Auch zur Bewaffnung teilte der Verfassungsschutz Detailliertes mit: Die Militanten hätten sich haufenweise Krähenfüße und Knallkörper, Farbspray und Feuerlöscher besorgt. Tatsächlich erlitten Polizisten während des Gipfels dann zentimetertiefe Fleischwunden durch Stahlkugelgeschosse. Zur Logistik führt der Bericht aus: „Es ist unwahrscheinlich, dass Materialien bei der Anreise mitgeführt werden. Sehr wahrscheinlich ist dagegen, dass sie bereits in Hamburg abseits von Szene-Anlaufstellen aufgehoben und erst kurz vor den Aktionen verteilt werden.“

Der Verfassungsschutz zitiert in dem Bericht auch ein Interview der „taz“ mit dem Titel: „Das Outfit gehört dazu – zwei Alt-Autonome über G 20“. Dort kündigte der Hamburger Autonomenanwalt Andreas Beuth an: „Es wird einer der größten Schwarzen Blöcke, die es in Europa jemals gegeben hat.“ Es könne gut sein, dass es „nach der Demo knallt“, obwohl man diese Konfrontation nicht wolle. Das BfV rechnete mit bis zu 8000 „Gewaltbereiten“. Hier lag das Kölner Amt falsch, denn tatsächlich waren es beim Gipfel bloß rund 1500 Schwarzvermummte. Dennoch hatte die Polizei beim Gipfel am 7. und 8. Juli enorme Schwierigkeiten, die Lage in den Griff zu bekommen.

Im Schlusskapitel „Prognose/Bewertung“ konstatiert das Bundesamt für Verfassungsschutz: „Klares Ziel des militanten Spektrums ist es dabei, eine Eskalation der Straßenmilitanz und damit einen Kontrollverlust bei den eingesetzten Sicherheitskräften herbeizuführen.“ Die Worte „Eskalation der Straßenmilitanz“ und „Kontrollverlust bei den eingesetzten Sicherheitskräften“ sind gefettet.

Bereits Seiten zuvor heißt es: Man suche „eine gewaltsame Konfrontation mit Einsatzkräften der Polizei“. Weiter steht geschrieben: „Während der Gipfelwoche sollen die Polizeikräfte durch vielfältige Aktionen im gesamten Stadtgebiet – jedoch verstärkt in dem Bereich um die ,Rote Zone‘ – stark belastet werden, um Kräfte zu ermüden und dadurch Nischen für weitere Aktionsformen zu schaffen.“ Zusätzlich gewinne innerhalb des militanten Spektrums die Position Gewicht, den „militanten Protest in Hamburg als Initial für eine Vernetzung militanter Strukturen im Bundesgebiet über den Gipfel hinaus zu nutzen“. Die Möglichkeit eines kollektiven Erfolgserlebnisses werde die Bereitschaft steigern, sich vollumfänglich einzubringen.

Interessant sind dem Lagebericht zufolge die engen Verbindungen zwischen der linksautonomen Szene in Berlin und Hamburg. Im Vorfeld der Räumung des Szenetreffs „Friedel 54“ am 29. Juni im Berliner Stadtteil Neukölln hatten gewaltbereite Linksextremisten ihren Widerstand mit dem Protest gegen den G-20-Gipfel verknüpft. Die Verfassungsschützer registrierten, dass über den Twitter-Account @G20HH2017 mit Gewalt gedroht wurde: „In einer Woche werden wir nicht vergessen haben, was Berliner Bullen heute an der #Friedel54 verzapfen.“

Der Verfassungsschutz machte auch auf die „Rote-Punkt-Aktion“ aufmerksam. So wurden am 1. Juli über den Twitter-Account der Autonom-anarchistischen AntiG20-Vernetzung Berlin (@NoG20Berlin) Anwohner in Hamburg dazu aufgefordert, rote Punkte auf ihre Tür oder Klingel zu kleben. Diese sollten als Erkennungszeichen für „Personen, die Hilfe brauchen“ dienen. „Also Rückzugsorte für Aktivisten aufzeigen“, heißt es im Lagebericht.

Als Rückzugsräume wurden aber nicht nur Wohnhäuser, sondern beispielsweise auch das Millerntorstadion des Fußballklubs FC St. Pauli, der Stadtteiltreff Centro Sociale zwischen Karo- und Schanzenviertel sowie das Autonomenzentrum Rote Flora angesehen. „Im Hof/Gartenbereich der ,Roten Flora‘ sind aktuell diverse Zelte als Übernachtungsmöglichkeiten aufgebaut“, so der Bericht. Darüber hinaus stelle man Räume für Übernachtungen auch im ersten Stock des Gebäudes zur Verfügung.

Die linksautonome Zeitschrift „Zeck“, die den Untertitel „Das Godzilla Fanzine aus der Roten Hölle“ trägt, taucht nicht in dem Bericht des Verfassungsschutzes auf. Das Heft hatte die Aktivisten ideologisch auf die schweren Krawalle eingestimmt. „Wir sind sicher, dass viele Freunde und Freundinnen aus nah und fern uns dabei unterstützen werden, die Stadt Hamburg lahm zu legen und für einen bleibenden Eindruck zu sorgen“, hieß es im Vorwort der Geburtstagsausgabe zum 25-jährigen Bestehen.

Das Propagandaorgan für die Rote Flora im Schanzenviertel findet, dass die militante Auseinandersetzung beileibe nicht in Hamburg aufhört: „Sie ist Teil eines permanenten Kampfes.“ Das Viertel liegt nur anderthalb Kilometer von den Messehallen entfernt, wo die mächtigsten Staats- und Regierungschefs beim G-20-Gipfel getagt hatten.

Die Information auf Seite eins des Verfassungsschutzberichts über militante Aktionen fehlte in früheren Versionen. Stattdessen stand an der Stelle: „Die Mobilisierung des ausländerextremistischen – vor allem des PKK-Spektrums – ist angelaufen und wird die linksextremistischen Proteste verstärken.“ Das Bundesamt für Verfassungsschutz warnte vor gewaltsamen Aktionen durch die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK). Kurden könnten nationalistische Türken angreifen und umgekehrt. In Hamburg gibt es eine große kurdische Gemeinde. Die PKK verfügt laut Verfassungsschutz bundesweit über ein Potenzial von rund 14.000 Personen und hat allein in Hamburg 600 Anhänger.

Der Verfassungsschutz befürchtete, dass die Stadt zu einem Tummelplatz werden könnte, auf dem sich Gegner von Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump, kurdische Gruppierungen sowie Links- und Rechtsextremisten Straßenschlachten liefern. „Insgesamt zeichnet sich ein hohes Mobilisierungspotenzial durch Vermischung nicht-extremistischer sowie linksextremistischer deutscher als auch extremistisch türkisch-kurdischer Gruppierungen ab“, heißt es etwa in einem Lagebericht aus dem Frühjahr.

Erdogans Besuch in Hamburg könnte zu einer „Protestmobilisierung“ führen, bei der nicht nur Linksextremisten aus Deutschland, sondern auch „türkische Linksextremisten und insbesondere kurdische Gruppierungen, vor allem die PKK, zusammenarbeiten werden“. Die Anwesenheit türkischer Regierungsvertreter beim Gipfel dürfte außerdem das regierungsnahe nationalistisch-türkische Spektrum mobilisieren, heißt es in dem Papier. Doch dazu kam es beim Gipfel nicht.

Die Befürchtungen des Verfassungsschutzes traten vielleicht auch deshalb nicht ein, weil Erdogan am Rande des Gipfels nicht zu seinen Anhängern sprechen durfte. Ein solcher Auftritt, etwa im türkischen Konsulat in Hamburg, hätte genehmigt werden müssen. Doch dies tat die Bundesregierung nicht.