»Erdogan hebelt bei Kurden das Kriegsrecht aus«

Erstveröffentlicht: 
29.06.2017

AnwältInnen stellen Strafanzeige gegen türkischen Präsidenten nach der Tötung von ZivilistInnen in kurdischen Gebieten

 

Mehrere AnwältInnen haben Strafanzeige gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestellt. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im kurdischen Cizre. Ein Interview mit der Anwältin Heike Geisweid.

Die Strafanzeige gegen Erdogan bezieht sich auf Kriegsverbrechen in der kurdischen Stadt Cizre. Was ist dort passiert?

 
Im September 2015 wurden dort 21 ZivilistInnen durch türkische Sicherheitskräfte getötet. Weitere 178 Menschen wurden im Zeitraum von Dezember 2015 bis März 2016 getötet, als die Stadt erneut unter Ausgangssperre gestellt wurde und die türkische Armee Cizre mit schweren Waffen angriff.

 

Die Nachrichtenlage über den Krieg in der Türkei ist schwierig, JournalistInnen können vielfach nicht aus den umkämpften Gebieten berichten. Auf welchen Quellen basiert Ihr Antrag?

 
Wir haben uns ganz bewusst auf die Fälle beschränkt, in denen die Menschenrechtsverletzungen gut dokumentiert sind – sowohl durch Fotos und Videoaufnahmen als auch durch Zeugenaussagen.

 

Wenn über den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei gesprochen wird, ist vielfach von Antiterror-Operationen oder von Gefechten zwischen der türkischen Armee mit Kämpfern der PKK die Rede. In dem Strafantrag widersprechen Sie diesem Bild.

 
Zuallererst sollten wir uns klar machen, warum die türkische Regierung von Terror seitens der Kurden und von Antiterror-Operationen spricht. Die Rede von Terroristen dient dazu, die Vorgehensweise der türkischen Sicherheitskräfte zu legitimieren. Denn ein »Kampf gegen Terror« wird anders geführt als ein Krieg gegen einen legitimen Gegner. Wenn Gegner als Terroristen gelten, kommt kein Kriegsrecht zur Anwendung und die gegnerischen Kämpfer werden nicht als Kombattanten eingeordnet, wodurch sie viele Rechte nicht genießen.

 

Die Berichterstattung in Deutschland scheint der Darstellung der türkischen Regierung zu bestätigen. Wie erklären Sie dies?

 
Die deutschen Medien haben diese politisch motivierte Perspektive sehr lange übernommen und zu wenig hinterfragt. Inzwischen ist das glücklicherweise anders, es gibt immer wieder kritische Berichte über den Krieg in der Türkei.

 

Welche Erwartungen verbinden Sie politisch mit der Strafanzeige, die die enge Zusammenarbeit zwischen der deutschen und türkischen Regierungen belasten könnte?

 
Uns ist bewusst, dass es sich um einen politisch brisanten Fall handelt. Ebenso wissen wir, dass aufgrund des Flüchtlingsdeals zwischen der EU und der Türkei die politischen Entscheidungsträger in Deutschland kein Interesse daran haben, mit einer juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechen die Beziehungen zur Türkei zu belasten.

 

Rechnen Sie trotz dieser politischen Brisanz damit, dass es tatsächlich zu einem Prozess kommt?

 
Ja, wir setzen darauf, dass die Justiz unabhängig ist und Staatsanwaltschaften und Gerichte solche Taten aufklären und die Täter gegebenenfalls bestrafen müssen. Mit dieser Forderung stehen wir keineswegs allein. Nicht nur zahlreiche Menschenrechtsorganisationen, sondern auch die Vereinten Nationen haben gefordert, dass die Ereignisse in Cizre aufgeklärt werden müssen. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten.