An vorderster Front der antirassistischen Bewegung kämpfen die Familien junger schwarzer Männer, die in Polizeigewahrsam starben.
In Frankreich gibt es ein Wort für Polizeieinsätze, die aus dem Ruder laufen und Verletzte oder gar Tote zur Folge haben: bavure. Es stammt aus der Zeit des algerischen Unabhängigkeitskrieges (1954–'62). Damals terrorisierten französische Sicherheitskräfte die aufständische Bevölkerung in der nordafrikanischen Kolonie und gingen gleichzeitig gegen die in Frankreich lebenden Algerier vor. Heute taucht das Wort auf, wann immer in den Schlagzeilen steht, Polizeibeamte hätten mutmaßlich Unbewaffnete misshandelt oder getötet. Die Zeitungen verwenden es vorsichtig, oft mit Anführungszeichen versehen. Für die Hinterbliebenen ist es dagegen ein Schlachtruf. Sie sehen die Bavure als wesentliches Merkmal eines französischen Polizeistaats, der immer aggressiver wird.
Adama Traoré wurde Opfer einer Bavure, die unlängst für Aufsehen sorgte: Er starb im Juli 2016 in Beaumont-sur-Oise, nördlich von Paris, in Polizeigewahrsam. Zwei Polizisten in Zivil verlangten die Ausweise von Traoré und seinem Bruder. Traoré hatte seinen nicht dabei und wollte fliehen, weil er kurz zuvor wegen Körperverletzung im Gefängnis gesessen hatte. Die Beamten nahmen ihn fest und brachten ihn aufs Polizeirevier, wo er starb. Der Staatsanwalt teilte mit, Traoré sei infolge einer "sehr schweren Infektion" gestorben, die zum Herzstillstand geführt habe. Seine Familie verlangte eine zweite Obduktion, bei der Erstickung als Todesursache festgestellt wurde. Ein von der Polizei gerufener Rettungshelfer berichtete später, er habe Traorés Leiche nicht in der stabilen Seitenlage vorgefunden, sondern mit dem Gesicht auf dem Boden und den Händen in Handschellen auf dem Rücken.
Der Ruf "Justice pour Adama!" war bei den Protesten und Unruhen der Folgemonate immer wieder zu hören. (Seit Kurzem ertönt auch "Justice pour Théo!" – bezogen auf Théo Luhaka, den Sozialarbeiter, den Polizisten letzten Februar in einem anderen Pariser Vorort mutmaßlich schlugen und vergewaltigten.) Zu den unermüdlichsten Rufern gehört Adamas Schwester Assa Traoré. Die 31-Jährige ist dreifache Mutter und hat ihren Job als Sozialpädagogin gekündigt, um die Familie öffentlich zu vertreten. Sie trägt ihre scharfe Kritik an Polizei und Justiz im Fernsehen und in großen Zeitungen vor. Damit erntet sie gleichermaßen Unterstützung und Zorn.
"Die Bürgermeisterin von Beaumont hat mich wegen Verleumdung verklagt", erzählt Assa bei einem Grapefruitsaft in einer Mall im Südwesten von Paris. "Ich trat in der Talkshow Le Gros Journal auf und sagte, sie habe sich auf die Seite der Polizeigewalt und gegen meinen Bruder gestellt – was ja stimmt." Schließlich habe die Bürgermeisterin, Nathalie Groux, den Umgang der Stadtverwaltung mit Adamas Fall mitgetragen, erklärt Assa. Die Umstände seien von Anfang an suspekt gewesen: "Nach der ersten Autopsie bestellten sie uns in die Präfektur und sagten, sie nähmen an, dass wir – weil wir ja Muslime sind – den Toten nach Mali [das Herkunftsland der Traorés] überführen und innerhalb von drei Tagen begraben wollen", erzählt Assa. "Sie hatten schon Air France kontaktiert und boten uns sogar Hilfe an, falls jemand einen Pass brauchte." Dieses sehr ungewöhnliche Vorgehen weckte in Assa den Verdacht, dass hier etwas vertuscht werden sollte. Auf eine Bitte um Stellungnahme reagierten weder die Behörden des für Beaumont zuständigen Départements Val-d'Oise noch Air France.
Als Groux dem Stadtrat von Beaumont im November 2016 eine Gebührenerhöhung vorschlug, um ihre Verleumdungsklage gegen Assa weiterzuführen, organisierte die Familie eine Protestkundgebung. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Menge ein und verhaftete fünf Tage später Assas Brüder, Bagui und Yssoufou, die in dem Chaos einen Polizisten angegriffen haben sollen. Assa sagt, Bagui sei aus Protest gegen seine Inhaftierung im Gefängnis Fleury-Mérogis in den Hungerstreik getreten. Nadine Picquet, die Direktorin des Gefängnisses, sagt VICE, ohne die Erlaubnis des Justizministeriums könne sie das weder bestätigen noch dementieren.
Wie viele Figuren in der wachsenden Bewegung gegen Polizeigewalt in Frankreich ist Assa notgedrungen zur Aktivistin geworden. Die Politik tritt für sie an die Stelle der Trauer. Vermisst sie ihr Privatleben? "Es gibt in meinem Leben keine normale Woche mehr. Für die Familie Traoré ist es ein bisschen wie in der Serie 24", sagt sie lachend. "Jede Stunde ist anders. Aber mein Privatleben vermisse ich nicht. Ich vermisse das Leben mit meinem Bruder. Sie haben ihn umgebracht und wir machen weiter, bis wir Gerechtigkeit erfahren und die Wahrheit kennen. Adama ist inzwischen aber auch zum Symbol geworden", fügt sie hinzu. "Man sagt uns, das hier sei ein freiheitlicher Rechtsstaat, aber das stimmt nicht. Wenn Frankreich dieser Gewalt ein Ende setzen will, braucht es eine neue Revolution. Ganz einfach."
Als ich im März Paris besuche, sind es nur noch vier Wochen bis zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Plakate der Kandidaten hängen an jeder Ecke, fast alle verunstaltet. Fünf schwierige Jahre liegen hinter dem scheidenden Präsidenten François Hollande und seiner Sozialistischen Partei. Seine unternehmensfreundliche Liberalisierung der Wirtschaft verärgerte seine eigene Basis und war der Auslöser für Nuit Debout, eine der größten französischen Protestbewegungen seit Generationen. Hollande war der erste französische Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg, der nicht zur Wiederwahl antrat.
Die Entwicklung hin zu einer stärkeren Exekutive ist ein Erbe Hollandes und nicht unbedingt an die politische Ausrichtung gebunden. Der massive Zulauf, den der FN im Vorfeld der Wahl erzielt hat, markiert jedoch einen Rechtsruck in der französischen Politik, und in einem gewissen Punkt waren sich Le Pen und Macron einig: Es müssen mehr Sicherheitskräfte her. Nach dem Bataclan-Terroranschlag im November 2015 verhängte Hollande den Ausnahmezustand und übertrug der Polizei damit umfangreiche Befugnisse für Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Inhaftierungen. Das Parlament hat den Ausnahmezustand seither mehrfach verlängert. Was als befristete Krisenmaßnahme begann, ist inzwischen fast zur Norm geworden. Anfang 2017 untermauerte ein neues Gesetz über die öffentliche Sicherheit diese neue Norm: Es lockert die Vorschriften zum polizeilichen Gewalteinsatz in Fällen "legitimer Selbstverteidigung". Die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte bezeichnete die Gesetzesänderung als "inakzeptabel". Studien haben wiederholt belegt, dass die Polizei ihre Befugnisse – insbesondere bei der Kontrolle von Ausweispapieren – unverhältnismäßig oft gegen Zuwanderer der ersten und zweiten Generation einsetzt, die meist aus den ehemaligen französischen Kolonien stammen. Für Le Pen ging der Ausnahmezustand noch nicht weit genug: Im Wahlkampf sammelte sie Pluspunkte als Kandidatin für nationale Sicherheit gegen "rebellische Milizen". Mit dieser Formel brachte sie politische Widerständler geschickt in Verbindung mit dschihadistischen Terroristen. Laut einer Studie der Hochschule Scienes Po Paris stimmten 51,5 Prozent aller Polizisten und Soldaten bei den Regionalwahlen 2015 für den FN.
Manche meinen allerdings, neue Gesetze und politische Strömungen könnten die Polizeigewalt in Frankreich nur zum Teil erklären. Sie führen den Konflikt zwischen Polizei und jungen Muslimen aus der Unterschicht auf die traumatischen Jahre des algerischen Unabhängigkeitskrieges zurück. Eine Aufarbeitung dieses langen, brutalen Entkolonialisierungskrieges hat es in Frankreich nie gegeben. Er endete im Verlust der prestigeträchtigsten französischen Kolonie und gilt erst seit 1999 offiziell als Krieg (statt als "Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" auf französischem Boden). Dem Soziologen Mathieu Rigouste zufolge stammen die heutigen "Repressionsmethoden" der Polizei unmittelbar aus dem Arsenal, das in den französischen Kolonien und insbesondere in Algerien zur Anwendung kam, als man "Eingeborene" folterte und ermordete. Polizei und Armee agierten damals wie heute unter dem Schutz des Ausnahmezustands. Der Autor Jeremy Harding erklärt, jeder Fall von schwerer Polizeigewalt "schürt unweigerlich die Angst, dass das französische Sicherheitsverständnis immer noch einen Erreger in sich trägt, mit dem Armee und Polizei in Algerien und Frankreich infiziert wurden, als man sie 1956 mit 'Sondervollmachten' ausstattete". Dieser politische und historische Hintergrund hat der Bewegung gegen Polizeigewalt Vorschub geleistet.
Am Abend vor meinem Treffen mit Assa sehe ich einen Teil dieser Bewegung in Aktion. Das "Collectif 19 mars" hält sein letztes Plenum vor einer Großdemonstration gegen Polizeigewalt ab, die im Pariser Stadtzentrum geplant ist: dem Marsch für Gerechtigkeit und Menschenwürde. Tausende wollen hier zusammen mit den von Polizeigewalt betroffenen Familien demonstrieren; zum Abschluss gibt es ein Konzert auf der Place de la République. Es sind drei Tage bis zur Demo und rund 30 Menschen aus allen Altersgruppen sind zum Plenum erschienen. Es geht zum Großteil um praktische Fragen: Werden Beobachter von Amnesty International da sein? Wie sieht das Line-up für das Konzert aus?
Zu den Organisatoren gehört auch Amal Bentounsi, eine weitere Frau mit afrikanischem Hintergrund, die zur Aktivistin wurde, nachdem die Polizei ihren Bruder Amine 2012 rücklings erschoss. Das Berufungsverfahren in dem Fall endete wenige Tage vor dem Plenum mit einem unerwarteten Schuldspruch: Der verantwortliche Polizist wurde wegen Totschlags zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt. Die Polizeigewerkschaft Alliance protestierte gegen das Urteil; es belege, dass weitere Reformen der Vorschriften zur "Notwehr" der Polizei nötig seien.
Nach dem Plenum öffnet Bentounsi eine Flasche Champagner und feiert mit ihren Mitstreitern; viele haben bei dem Prozess mitgeholfen. Bentounsi sagt, sie sei "völlig erschöpft". Seit fünf Jahren spricht sie mit den von Polizeigewalt betroffenen Familien und leitet die Opferhilfegruppe "Urgence! Notre Police Assassine" (etwa: "Notfall! Unsere Polizei mordet"). Gibt das Urteil ihr Hoffnung? "Ich würde sagen, es ist ein kleiner, symbolischer Sieg", erklärt sie. "Und es gibt noch viel zu tun, denn sehr viele Familien warten noch auf Gerechtigkeit."
Ein Thema auf dem Plenum war auch der Ausnahmezustand. Ich frage Bentounsi, ob sich das Auftreten der Polizei durch ihn wirklich verändert habe. Sie meint, er gelte in den ethnisch gemischten Arbeitervierteln für viele nicht erst seit 2015: "Er ist schon jahrelang in Kraft. Man kann sagen, dass er jetzt auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt wurde und dadurch immer mehr Menschen sehen, wie sich die Polizei verhält. Die Protestbewegungen bekamen im letzten Jahr bei ihren Demos dieselbe Unterdrückung zu spüren und interessieren sich jetzt für die Frage der Polizeigewalt. Es gibt dadurch eine Annäherung zwischen den Menschen, die das seit Jahren erleben, und den anderen Bewegungen. Und das ist gut. Wir waren noch nie zuvor so sichtbar."
Entgegen der Befürchtungen des Collectif regnet es bei der Demo nicht. Die Menschen kommen in Scharen, Polizeiangaben zufolge sind es 7.500. Die betroffenen Familien laufen ganz vorn. Sie tragen ein Transparent mit den Bildern von 13 Jugendlichen, die von der Polizei getötet oder schwer verletzt wurden, allesamt junge Männer mit afrikanischem Hintergrund. Die Familien rufen ihre Namen: "Théo, Adama, Zyed, Bouna …" Hinter ihnen laufen die Migrantenrechtsgruppen und prangern den "Rassismus und die Kolonialvergangenheit des französischen Staats" an, es folgen Gewerkschafter, linke Kleinstparteien und sogar ein Lieferwagen voller Lautsprecher, in dem Rapper live performen ("Nique la France!" – "Scheiß auf Frankreich!").
Die Place de la République ist randvoll mit Demonstranten, Aktivisten, Kindern, Teenagern und Eltern. Es herrscht Festivalstimmung, die Menge jubelt laut, als der politische Rapper Kery James die Bühne betritt. In der Mitte des Platzes steht die riesige Statue der Marianne, der Personifikation der Französischen Republik. Sie ist mit Bannern geschmückt, die zum Widerstand gegen die Polizeigewalt und den Ausnahmezustand aufrufen. Zuletzt war sie im vergangenen Jahr mit radikalen Losungen verziert, als Nuit Debout den Platz für zwei Wochen besetzt hielt. In diesem Sinne steht die Demonstration für die potenzielle Allianz, die Bentounsi erwähnt hat: Die Bewegungen mit einem ökonomischen Schwerpunkt treffen auf die Bewegung gegen Polizeigewalt.
Um den Platz stehen mehrere Reihen tief Beamte der französischen Bereitschaftspolizei CRS. Sie tragen Helme, Bein- und Schulterprotektoren, Feuerwaffen und Tränengas. Wer auf den Platz will, muss seine Tasche von ihnen durchsuchen lassen – dazu sind sie aufgrund des Ausnahmezustands berechtigt. Als ich den Platz verlasse, checke ich auf Twitter #MarchePourLaJusticeEtLaDignité und sehe, dass Marion Maréchal-Le Pen ein Video geteilt hat: Es zeigt eine kleine Gruppe von Antifas, wie sie bei der Demo Molotowcocktails auf Polizisten schleudern. Die FN-Parlamentsabgeordnete und Nichte von Marine Le Pen schreibt dazu: "MarchePourLaJusticeEtLaDignité = ein Marsch des Hasses und der Gewalt gegen die Polizei und Frankreich". Ihr Kommentar hat schon über 1.000 Retweets. Wie eine frühere Generation von französischen Radikalen einst sagte: "La lutte continue." Der Kampf geht weiter.