Christoph Ruf über den Spaß der Medien am Thema »Fangewalt«, die selbst dann darüber berichten, wenn gar nichts passiert ist
Bei den Relegationsspielen zwischen Eintracht Braunschweig und dem VfL Wolfsburg und 1860 München gegen Jahn Regensburg haben sich Fußballfans daneben benommen. In München sorgten Löwenanhänger für eine Spielunterbrechung, nachdem sie das Fangnetz hinter dem Tor aus der Verankerung gerissen hatten und minutenlang Stangen und Sitzschalen auf den Platz warfen. Indiskutabel - weil Menschen verletzt werden können. Indiskutabel - weil jedem Löwen-Fan hätte klar sein müssen, dass danach wieder eine Debatte entflammen würde, die keinem Fußballfan in keinem Stadion des Landes recht sein kann. Eine Debatte, die - wie immer in den vergangenen Jahren - von Polemik geprägt sein würde. Und von einer gravierenden Ahnungslosigkeit.
Denn natürlich waren es keine »Eisen-« oder gar »Stahlstangen«, die auf den Fußballplatz geworfen wurden. Die bekommt man seit Jahrzehnten in kein Stadion mehr hinein. Es waren ausgehöhlte PVC-Stangen. Solche, die Ultras benutzen, um Fahnen und Doppelstockhalter zu stabilisieren. Sowohl im Stadion selbst als auch im Fernsehen erkannte man bereits an der Flugbahn, die an von Kindern gebastelte Papierflugzeuge erinnerte, dass es sich um extrem leichte Wurfgeschosse handeln musste.
Wie also kam diese »Eisen«-Ente in die Welt, die für zusätzlichen Horror sorgte? Waren die Ereignisse in München, so wie sie sich zugetragen haben, nicht schon schlimm genug? Musste man sie noch zusätzlich durch Lügen weiterdrehen? Ganz offensichtlich entsteht durch solche Fake News, egal, ob sie durch Bosheit oder aus schierer Inkompetenz in die Welt gesetzt werden, ein Klima, in dem alles erlaubt ist, was zum gewünschten Tenor passt.
Wer liest, was über das Spiel des FC Carl Zeiss Jena gegen Viktoria Köln geschrieben wurde, ist fassungslos. Auch und gerade, wenn er selbst Journalist ist und an dem Tag von 12 Uhr bis spät abends an den Orten des Geschehens war. Denn der geradezu rührend friedliche Aufstieg der Thüringer in die 3. Liga wurde ebenfalls skandalisiert. Manche Zeitung schrieb von »Hunderten« Krawallmachern, der »Sportbuzzer« erhöhte auf »Tausende«. In Wahrheit gab es keinen einzigen! Aber wen interessieren Nuancen, wenn Fanrandale wieder mal en vogue sind?
Wenn Fans ein paar Grashalme ausreißen und sie sich in den Tabakbeutel stopfen, könnte man das als niedliche Souvenirjagd beschreiben. Oder eben als schweren Vandalismus. Wenn Tausende zusammen mit ihren Spielern auf dem Platz feiern, könnte man das als ausgelassenes Fußballfest beschreiben. Oder eben als bedrohlichen Platzsturm. Man könnte erwähnen, dass Kölner Fans schwer gerührt waren, als sie von Jenaer Fans getröstet wurden und man sich schnell einig war, dass ein Aufstiegsmodus, der dafür sorgt, dass der Meister einer Staffel nicht hoch darf, Mist ist. Man kann es aber auch weglassen, weil’s nicht zum Randale-Drehbuch passt.
Also weiter mit den apokalyptischen Vorfällen. Es gab »23 Verletzte«. Das waren Jena-Fans, die sich selbst beim Überklettern der Zäune zum Beispiel kleine Hautrisse zuzogen, wegen derer sie den Sanitäter ihres Vertrauens um ein Pflaster baten. Das passiert auf Kinderspielplätzen und Fahrradewegen der Republik tausendfach pro Tag, ohne dass die Polizei daraus Pressemeldungen stricken würde. Tatsächlich zogen einige Fans abends mit bengalischen Feuern durch die Stadt und feierten den Aufstieg. Ein paar junge Leute, die fröhlich durch die Straßen liefen - so haben es offenbar auch Anwohner und Passanten erlebt. Und so ist es glücklicherweise mittlerweile auch durch viele Videoaufnahmen belegt.
Ist es also nicht allmählich an der Zeit, dass Journalisten Berichte über Fanrandale anders behandeln als sie das bisher tun? Dass sie begreifen, dass Polizei und Fans jeweils ihre eigene Sicht auf die Vorfälle haben, die sich meist widersprechen. Dass selektive Wahrnehmung und die Tendenz zur Verharmlosung die Übel der Fanseite sind, während die Tendenz zu Übertreibung und Skandalisierung das Übel der anderen Seite ist? Die zahlreichen Journalisten anderer überregionaler Medien, die den Jenaer Aufstieg mitbegleiteten, zogen übrigens ein völlig anderes Fazit als diejenigen, die aus der Ferne kommentierten: tolle Mannschaft, tolles Stadion, tolle Fans. Steigt gerne noch mal auf, dann wiederholen wir im kommenden Mai die Party.