Wie Albert Speer der liebste Ex-Nazi der Deutschen wurde

Erstveröffentlicht: 
31.05.2017

Warum wurde ausgerechnet Hitlers Lieblingsminister Albert Speer der einflussreichste Zeitzeuge für das "Dritte Reich"? Eine Biografie rechnet mit der Geschichtswissenschaft ab.

 

Die große Koalition der Albert-Speer-Versteher reichte von Willy Brandt bis Helmut Kohl. Als der frühere Nationalsozialist Speer 1966 aus dem alliierten Gefängnis in Berlin-Spandau entlassen wurde, schickte der damalige SPD-Vorsitzende Brandt einen Strauß Blumen. Einige Jahre danach - Speer wurde 70 - gratulierte der damalige CDU-Vorsitzende Kohl mit einem persönlichen Schreiben.

 

Ausgerechnet Speer. Liebling Adolf Hitlers, Stararchitekt im "Dritten Reich", ab 1942 mächtiger Rüstungsminister, zeitweise designierter Nachfolger Hitlers, verurteilter Kriegsverbrecher.

 

Von allen hochrangigen NS-Funktionären, die den Untergang ihres mörderischen Imperiums überlebten, gelang nur Speer eine spektakuläre zweite Karriere. Der groß gewachsene, gut aussehende Mann vermarktete seine Vergangenheit, erwarb als Zeitzeuge weltweites Ansehen und verdiente damit ein Vermögen.

Hunderttausende schalteten ein, wenn Speer im deutschen oder ausländischen Fernsehen über Hitler Auskunft gab. Er wurde von Stars wie dem Dokumentarfilmer und späteren Oscargewinner Marcel Ophüls oder dem legendären TV-Moderator David Frost interviewt. Seine "Erinnerungen" von 1969 und die "Spandauer Tagebücher" von 1975 erzielten Millionenauflagen und zählen zu den meistverkauften Werken in deutscher Sprache.


In Restaurants sprachen ihn wildfremde Menschen an. Immer wieder klingelte bei den Speers in Heidelberg das Telefon, weil Journalisten, Historiker und andere Geschichtsinteressierte um Auskunft baten. Der sich reuevoll gebende Speer war der liebste Ex-Nazi der Deutschen.

 

Nun liegt eine neue Biografie vor, die dem erstaunlichen Aufstieg des Verbrechers nach seiner Haft breiten Raum einräumt. Autor ist Magnus Brechtken, Historiker und stellvertretender Direktor des angesehenen Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ). Sein Buch ist auch eine Abrechnung mit dem eigenen Berufsstand. Der 53-jährige Historiker wirft seiner Zunft "Unvermögen" vor.

 

Jahrelang habe Speer unwidersprochen "Legenden, Lügen und Märchen" (Brechtken) über den Nationalsozialismus und seine eigene Rolle verbreiten können. Hinter dem "Nicht-selbst-Nachforschen" der Kollegen vermutet Brechtken wenig ehrenwerte Motive: "Bequemlichkeit, Ignoranz, Unwissen, Gleichgültigkeit, Scheu vor der Komplexität und Masse der Quellen".

 

Als Belege präsentiert der IfZ-Mann erstaunlich Speer-freundliche Rezensionen von den Großen seines Fachs, etwa Hans Mommsen (1930 bis 2015), Golo Mann (1909 bis 1994), Klaus Hildebrand oder Eberhard Jäckel, die die Werke Speers mit dem Siegel der Wissenschaft adelten. Die "Spandauer Tagebücher" seien ein "menschliches Dokument ersten Ranges", schrieb Mommsen. Solche Texte erschienen in diversen Medien, auch im SPIEGEL.

Kritische Stimmen drangen kaum durch. Als ein Doktorand 1982 die Beteiligung Speers an der Verfolgung der Berliner Juden offenlegte, diffamierte der Kölner Professor Jost Dülffer die Studie als "Illustriertenreport". Erst Jahre später schrieb Dülffer selbst kritisch über Speer. Heute ist er bekannt als Mitglied einer Kommission, die im Auftrag des Bundesnachrichtendienstes dessen Geschichte erforscht.

 

Da die Beschäftigung mit Biografien lange als Karrierehindernis an den Universitäten galt, machte sich von den arrivierten Wissenschaftlern kaum jemand die Mühe, Speers Angaben zu prüfen:

Etwa dass soziale Außenseiter und gestrandete Existenzen bei den Nazis den Ton angaben - und nicht Intellektuelle wie Speer. In Wirklichkeit trugen Akademiker der Generation Speer, geboren um 1905, das System.

Oder dass Speer sich nach eigenen Angaben "nie antisemitisch betätigt" habe. Dabei bewilligte der oberste Rüstungsorganisator 1942 Material für den Ausbau des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und kritisierte die Unterbringung von Zwangsarbeitern im KZ Mauthausen - sie sei zu großzügig (SPIEGEL 18/2005).

 

Erst in den vergangenen Jahren hat sich das öffentliche Bild nachhaltig gewandelt.

 

Den Beginn des Aufstiegs zum Kronzeugen datiert Biograf Brechtken in den Mai 1945. Schon den amerikanischen Vernehmern präsentierte sich der damals 40-jährige Speer als intelligenter Plauderer, Typ College-Professor.

Speer versuchte, maximale Distanz zu seinen ehemaligen Parteigenossen herzustellen. Als einziger Angeklagter akzeptierte er demonstrativ das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal und bekannte sich zur "Gesamtverantwortung".

Der clevere Architekt nutzte jede Gelegenheit, die anderen Mitglieder der Führungsclique wie Propagandachef Joseph Goebbels oder SS-Chef Heinrich Himmler als dümmlich und brutal darzustellen. Eben anders als er selbst zu sein schien.

Obwohl er bereits 1931 als junger Universitätsassistent der NSDAP beigetreten war, präsentierte sich Speer in Nürnberg als unpolitischer Fachmann, der wie viele andere von Hitler getäuscht worden sei.

 

Hätten die alliierten Richter gewusst, was heute über Speer bekannt ist, wäre er wohl zum Tode verurteilt worden. Doch die Ermittler gruben nicht tief genug.

Mit seiner Distanzierungsstrategie rettete Speer jedoch nicht nur sein Leben, sondern unterbreitete dem deutschen Publikum ein "Identifikationsangebot" (Brechtken). Wenn schon die zeitweilige Nummer zwei des Regimes kein Nationalsozialist war, sondern ein unpolitischer Fachmann, der von den Verbrechen angeblich nichts wusste, dann konnten auch alle anderen Deutschen dieses für sich beanspruchen.

 

Schnell erwies sich Speer als Liebling der Journalisten und ihrer Leser. Es widersprach ja auch niemand seinen Aussagen. 1947 ehrte der Oxforder Historiker Hugh Trevor-Roper die Selbstdarstellung Speers mit akademischen Weihen: Der Rüstungsminister habe moralisch und intellektuell aus Hitlers Entourage herausgeragt. Trevor-Roper hatte für den britischen Geheimdienst die Todesumstände Hitlers rekonstruiert und daraus ein Buch gemacht, das zum Kassenschlager wurde. Und da damals kaum ein Wissenschaftler den Holocaust erforschte, blieb Speers Rolle beim Massenmord unentdeckt.

Als Speer 1966 das Gefängnis verließ, war das Fundament für eine zweite Karriere gelegt. Einige der mit ihm einsitzenden NS-Verbrecher hofften schon hinter Gittern auf das Geschäft mit der Vergangenheit. Als Speer zu Mithäftling Baldur von Schirach, verantwortlich für die Deportation der Wiener Juden, meinte, dieser werde für seine Memoiren eine Million Mark einnehmen, entgegnete Schirach: "Das wäre ja gelacht± Das wird viel mehr."

 

Sein erstes Interview verkaufte Speer an den SPIEGEL, später schloss er einen Vertrag mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler (1926 bis 2013). Dieser bat seinen Freund Joachim C. Fest (1926 bis 2006) dazu, damals ein 40-jähriger Journalist, später bekannt als Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Verfasser zahlreicher Bestseller zum "Dritten Reich", etwa einer Hitler-Biografie oder dem "Untergang", der Vorlage für den gleichnamigen Kinoerfolg.

Fest empfand die Zusammenarbeit mit Speer als ein "Geschenk der Götter": "Einen solchen Zeugen - ersten Zeugen± - bekommt eigentlich kein Historiker je." Gemeinsam mit Siedler machten sie sich ans Werk. Sie verbanden das Angenehme mit dem Nützlichen, reisten nach Frankreich oder Sylt und arbeiteten an dem Text.

 

Biograf Brechtken geht mit Fest so scharf ins Gericht wie mit keinem anderen Historiker. Dieser habe erst Speer "konkrete Hilfe" beim Täuschen geleistet, dann dessen Versionen in seine eigenen Bücher übernommen und schließlich diese mit "verblüffender Ignoranz" und "aggressiver Uneinsichtigkeit gegen die wissenschaftliche Aufklärung" verteidigt.

 

Speer hatte bereits in der Haft Aufzeichnungen gefertigt. Sie wiesen jedoch nicht annähernd jene "verführerische Brillanz" (Brechtken) auf wie die publizierten Erinnerungsbände. Die Vermutung liegt nahe, dass Fest - ein glänzender Stilist - Speer die Feder führte. Zu Lebzeiten hatte Fest das bestritten.

In einem Brief verlangte Fest von Speer, die Erinnerung "aufs Äußerste" zu strapazieren: "Wo trafen Sie beispielsweise zu welcher Zeit Hitler³ wie äußerte er sich?" Brechtken weist darauf hin, dass Jahrzehnte nach einem Ereignis das Gedächtnis entweder nur Bekanntes oder aber nachträglich Überformtes preisgibt. Auf diese Weise gewonnene, neue Hitler-Zitate waren unglaubwürdig.

 

Als Dokumentenfunde belegten, dass Speer in wesentlichen Punkten gelogen hatte und infolgedessen auch Deutungen Fests wankten, ignorierte dieser die Erkenntnisse. Es sei ein "Skandal", empört sich Brechtken, dass Fest "immer und immer wieder" die Unwahrheiten Speers verbreitet habe, ihnen "stilistischen Glanz verlieh und diese Kolportagen als Geschichtsschreibung verkaufte".

 

Erst in seinen letzten Lebensjahren erklärte Fest, er sei von Speer getäuscht worden. Nach Brechtkens Recherchen hat Fest es Speer denkbar leicht gemacht.

Brechtken insinuiert sogar, dass Fest und dessen Sohn Alexander, langjähriger Rowohlt-Geschäftsführer, Geschichtsfälschung betrieben haben. Es geht um Fests Buch "Die unbeantwortbaren Fragen" (Rowohlt Verlag). Darin referiert Fest aus Vermerken der Gespräche mit Speer. Da einige Datierungen offenbar falsch sind, fragt Brechtken, ob die publizierte Version der Dokumente mit den Originalen identisch sei oder Fest "hinzuformuliert" habe. Er habe das im Nachlass Fests nicht überprüfen dürfen.

 

Alexander Fest, der Sohn des Historikers, erklärt auf Anfrage, er habe Brechtken keinen Zugang zum Nachlass gewährt, weil ihm ein Lesesaal fehle und er die Unterlagen "nicht in der Welt herumschicken" wolle. Fest junior bestreitet, dass manipuliert worden sei. Brechtkens Spekulation sei "ein Witz".

Brechtkens Kritik zielt auf die Geschichtswissenschaft. Speers Karriere als Zeitzeuge beruhte zugleich darauf, dass viele Deutsche ihm folgen wollten. Ob es ein solches Publikum in Deutschland noch gibt, wird die Reaktion auf Brechtkens Werk zeigen.