Wann Ausbürgerungen legitim sind – und wann nicht

Thomas Mann, hier mit seiner Frau Katia, wurde am 3. Dezember 1935 mit der Liste Nr. 7 offiziell ausgebürgert – weil er "durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt" hätte
Erstveröffentlicht: 
14.03.2017

„Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden“, heißt es in Artikel 16 des Grundgesetzes. Das will die AfD ausdrücklich ändern. Ein Tabubruch oder historische Normalität?

 

Von Sven Felix Kellerhoff

 

Der Missbrauch des Rechtes sollte sich nicht wiederholen. Ausdrücklich mit Hinweis auf das nationalsozialistische Ausbürgerungsgesetz von Juli 1933 regte Hermann von Mangoldt, Jurist und für die CDU Mitglied des Parlamentarischen Rates, 1948 an, gegen eine theoretisch denkbare Norm zur Aberkennung der Staatsangehörigkeit eine verfassungsrechtliche Sicherung vorzusehen.

Für die Bundestagswahl 2017 hat der Bundesvorstand der AfD jetzt unter anderem vorgeschlagen, die „Ausbürgerung krimineller Staatsbürger mit Migrationshintergrund“ zu ermöglichen. Dafür will die rechtspopulistische Partei ausdrücklich die auf Mangoldts Initiative geschaffene Sicherung im Artikel 16 des Grundgesetzes ändern: „Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.“

Handelt es sich bei dieser Forderung um einen Tabubruch? Oder vielleicht doch um eine Rückkehr zu historischer Normalität? Darauf verweisen Verteidiger der AfD-Formulierung: Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft sei etwas ganz Normales und in vielen Ländern üblich.

Allerdings wird die Sache immer komplizierter, je genauer man hinschaut. Man muss zwischen sehr verschiedenen Sachlagen unterscheiden. Mustergültig aufgearbeitet hat das der Berliner Historiker Dieter Gosewinkel, führender Experte für die Entwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts, in seinem vor wenigen Monaten erschienenen Buch „Schutz und Freiheit? – Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert“.

Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert galt die Ausbürgerung unter anderem in Großbritannien und Frankreich dann als zulässig, wenn Staatsbürger gegen die „Loyalitätspflicht“ verstießen, vor allem ungenehmigt in den Staats- oder Militärdienst einer fremden Macht eintraten oder sich sonst wie dem Militärdienst entzogen. Auch in der Bundesrepublik gab es in Einzelfällen solche Ausbürgerungen aufgrund von Eintritten in die Armee eines anderen Staaten. In Ländern mit Wehrpflicht gibt es dieses Problem bis heute, besonders für Menschen mit zwei Staatsangehörigkeiten.

Ab 1917 bürgerte die gerade entstehende Sowjetunion in großem Umfang Personen aus, die sich dauerhaft im Ausland aufhielten. Es handelte sich um Flüchtlinge, die nicht unter dem kommunistischen Regime leben wollten. Auf diese Weise wurde die Ausbürgerung zum „Kampfinstrument im Bürgerkrieg“, schreibt Gosewinkel.

Wieder eine andere Grundlage hat die einzige gegenwärtig in der Bundesrepublik zulässige Art der Aberkennung der verliehenen Staatsbürgerschaft. Das Bundesverfassungsgericht stellte in einem Urteil von 2006 fest, dass der deutsche Pass entzogen werden kann, wenn er „erschlichen“ wurde. Wer getäuscht hat, also etwa die Einbürgerung unter einer falschen Identität beantragt hat, kann sogar in die Staatenlosigkeit entlassen werden.

Das ist übliche Praxis auch in anderen Staaten, etwa den USA. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt naturalisierte US-Bürger ausgewiesen, die falsche Angaben über ihre Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg gemacht hatten. Der bekannteste Fall ist John Demjanjuk, der als ukrainischer Wachmann im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt gewesen war. Er wanderte 1952 in die USA aus und erhielt sechs Jahre später einen US-Pass. 1981 wurde ihm die Naturalisierung wieder aberkannt, weil er seine Tätigkeit für die SS verschwiegen hatte – sie hätte schon in den 50er-Jahren ziemlich sicher zu einer Ablehnung geführt.

Derartige Ausbürgerungen sind verfahrensrechtlich kompliziert, aber juristisch gut begründbar. Anders ist es, wenn der Verlust einer einmal verliehenen Staatsbürgerschaft als Strafe angestrebt wird: „Es war die nationalsozialistische Diktatur, die die Ausbürgerung als Instrument politisch-ideologischer Ausstoßung mit besonderer Radikalität perfektionierte“ schreibt Gosewinkel. Die „Strafexpatriierung“ zielte auf jene, die ihre „Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verletzt“ hatten. Im Ergebnis wurde die Ausbürgerung so „zu einem universalen Strafinstrument gegen beliebig definierte Regimegegner“.

Auch die DDR setzte dieses Mittel ein, um Regimegegner loszuwerden. Die bekanntesten Beispiele sind der Liedermacher Wolf Biermann 1976 und der Bürgerrechtler Roland Jahn 1983. Hier war die Expatriierung wider Willen als Sanktion gedacht.

Genau darauf zielt der Vorschlag des AfD-Vorstandes, sollen doch Einbürgerungen widerrufen werden „bei erheblicher Kriminalität innerhalb von zehn Jahren“ nach Erhalt des deutschen Passes, bei der „Mitwirkung in Terrororganisationen“ und bei der „Zugehörigkeit zu kriminellen Clans“.

Die Ausbürgerung würde damit zu einer regelmäßigen Sanktion gegen Straftäter. Mit der nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts zulässigen Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft wegen Täuschung hat das nichts mehr zu tun. Außerdem riecht der Vorschlag nach Sippenhaft. Denn die angebliche oder tatsächliche „Zugehörigkeit zu kriminellen Clans“ an sich ist in Deutschland nicht strafbar.

Zusätzlich entstünde eine Art Staatsbürgerschaft auf Bewährung und damit zwangsläufig zwei Klassen von Deutschen: jene mit Migrationshintergrund, denen der Pass entzogen wird, wenn sie straffällig werden, und jene, bei denen das nicht möglich ist. Durch die Hintertür käme also eine ethnische Definition hinein.

Weiterhin unklar bleibt, ob die AfD die Ausbürgerung von „kriminellen Staatsbürger mit Migrationshintergrund“ auf jene beschränken will, die mit einer anderen Staatsangehörigkeit geboren wurden und den deutschen Pass erst im Laufe ihres Lebens erlangten. Oder ob – eine Interpretation, die der Wortlaut des Leitantrages zumindest zulässt, was kaum Zufall sein dürfte – generell allen Deutschen mit Migrationshintergrund im Falle von Straffälligkeit die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Das wäre praktisch identisch mit der nationalsozialistischen Strafexpatriierung.

Verfassungsrechtlich dürfte das ohnehin nicht zulässig sein. Denn auch wenn lediglich die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes durch die „Ewigkeitsklausel“ des Artikels 79 geschützt sind, so wäre wohl eine Aberkennung angeborener deutscher Staatsangehörigkeit ein Verstoß gegen die Menschenwürde und damit gegen den grundlegenden Artikel 1.

Dieter Gosewinkel: „Schutz und Freiheit? – Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert“. (Suhrkamp Wissenschaft, Berlin. 772, S., 29 Euro)