Regisseur Raoul Peck über »Der junge Karl Marx« und was man heute von ihm lernen kann
»Der junge Karl Marx« zeigt, dass die Lehren des Philosophen noch immer hochaktuell sind. In dieser Woche startet der ungewöhnliche Historienfilm in unseren Kinos. Premiere feierte er im Februar im Rahmen der Berlinale. Dort traf der kreuzer Regisseur Raoul Peck. Einen ausführlichen Blick auf den Film, der zum Teil in Görlitz entstand, gibt es auch in der Märzausgabe des kreuzer.
kreuzer: Ihr Film wirkt sehr persönlich. Wie ist Ihr Verhältnis zu Karl Marx und seinen Lehren?
RAOUL PECK: Ich habe mich mein ganzes Leben mit Marx beschäftigt. Als ich in Berlin studierte, war Marx Teil der Allgemeinbildung. Vier Jahre lang habe ich »Das Kapital« studiert. Vor ein paar Jahren kam Arte auf mich zu und wollte einen Dokumentarfilm über Marx drehen. Aber ich merkte bald, dass mich das zu sehr einschränkte. Ich wollte aber auch kein übliches Biopic drehen, mit Emotionen und erfundenen Geschichten. Die Geschichte sollte so nah wie möglich an der Realität sein.
kreuzer: Was waren die Schwierigkeiten eines Films über Marx?
PECK: Es gab viele Fallen, in die man treten konnte. Der Film widersetzt sich dem gängigen Schema, denn er handelt von Ideen, der Evolution von Ideen. Er erzählt von einer Zeit, in der alles sehr sperrig und feststeckend war. Ich musste es auf eine Art modernisieren, die sich menschlich anfühlte. Dazu nutzten wir die Besetzung, die Dialoge, die Kostüme, die Art, in der wir die Städte einsetzten und die Szenen filmten. Ich musste auf der einen Seite innovativ sein, auf der anderen Seite dem Publikum aber auch einen gewissen Wiedererkennungswert an die Hand geben. Es geht hier ja auch um die Worte, um den Austausch, die Diskussion. Viele Sätze entnahmen wir der schriftlichen Korrespondenz zwischen Marx und Engels. Dadurch konnten wir es lebendig halten. Es ist ein sehr dünner Grad zwischen dem großen Kino auf der einen Seite und der Verpflichtung, der Zeit und der politischen und philosophischen Realität treu zu bleiben auf der anderen. Es musste sich gleichermaßen klassisch anfühlen, aber auch modern für eine jüngere Generation.
kreuzer: Wie haben die Verleiher auf die Idee reagiert, dass Sie einen Spielfilm über Marx drehen wollten?
PECK: Als ich vor zehn, fünfzehn Jahren Leuten erzählte, ich will einen Film über Karl Marx machen, hielten sie mich für verrückt. Heute ergibt es natürlich mehr Sinn, wenn man sich anschaut, was in der Welt passiert. Es ist das erste Mal, dass die Geschichte von Marx im westlichen Kino erzählt wird. Und es ist gleichermaßen eine Geschichte über die Ursprünge, nicht die Monstrosität der Fehlinterpretation. Zum ersten Mal sieht man Marx mit einem jungen Gesicht, nicht als alten, bärtigen Mann, wie allgemein üblich. Und ich bin mir sicher, die Menschen werden Karl Marx in Zukunft mit dem Gesicht von August Diehl verbinden. Es war ein sehr ambitioniertes Projekt, das leicht hätte schief gehen können, ein monumentales Werk. Es hat zehn Jahre gebraucht, um den Film zu drehen, den ich drehen wollte.
kreuzer: Der Titel ist ein wenig irreführend, geht es doch auch um die Freundschaft zu Friedrich Engels, und dann ist da ja auch noch Jenny Marx, die eine wesentliche Rolle in der Erzählung spielt …
PECK: Marx war das Genie der drei. Er war einer der scharfsinnigsten Köpfe seiner Zeit. Niemand hatte eine solche Kraft. In seinen Zwanzigern kritisierte er Hegel, Feuerbach, weltbekannte Philosophen seiner Zeit. Er wagte es, sich gegen die Arbeiterbewegung zu stellen, in einer Zeit der Industrialisierung. Es war ein wichtiger Moment der modernen Gesellschaft. In dieser Zeit war er der wichtigste Denker dieser Gesellschaft. Wie nähert man sich also dieser Figur, die zu einer Statue gemacht wurde, die viele Politiker gekidnappt haben? Es handelt sich hier um die größte theoretische, moralische und philosophische Entführung des letzten Jahrhunderts. Marx und Engels zu nehmen, um die Monstrositäten, die Ermordungen in vielen Kontinenten zu rechtfertigen. Darum ging es den jungen Menschen nie. Wenn Marx schreibt, die Emanzipation aller muss durch die Emanzipation jedes Einzelnen erfolgen, hat das nichts mit autoritären Regimes zu tun. Ganz im Gegenteil, es propagiert die Emanzipation eines jeden menschlichen Individuums. Das ist die Voraussetzung für die Emanzipation des Kollektivs. Und wenn man sich anschaut, was daraus gemacht wurde, wären die beiden Männer und Jenny bereits in der ersten Woche der russischen Revolution getötet worden, unter Stalin, der Stasi und all jener Leute.
kreuzer: Wie können uns Marx’ Analysen heute noch helfen? Wie aktuell ist Ihr Film?
PECK: Wir leben in einer klar definierten historischen Epoche: der kapitalistischen Gesellschaft. Wir hatten die Antike, deren ökonomische Form die Sklaverei war, wir hatten den Feudalismus, mit der Knechtschaft als wirtschaftliches System, und wir haben die derzeitige Gesellschaft, deren prinzipieller Modus die Entlohnung ist, die Arbeit für das Kapital. Marx begann die Entwicklung dieser drei Formen zu analysieren und wie die Gesellschaft, in der wir leben, funktioniert. Eine seiner Antworten darauf ist, dass die Gesellschaft und ihr Produktionsmodus einzig darauf ausgerichtet ist, Profit zu generieren. Wir bewegen uns heute in einer in all diesen Bereichen noch viel extremeren Form. Die Finanzwelt, wo wir die Anhäufung eines großen Wohlstands in den Händen von ganz Wenigen beobachten. Das hatte Marx bereits behandelt, wie das Kapital auch immer Krisen heraufbeschwört, wie es Wohlstand und gleichzeitig auch Armut und Ungleichheit generiert. Das liegt in seiner DNA. Wie wir damit umgehen, dabei können uns Marx’ Analysen helfen. Will man das System reformieren oder grundlegend ändern? Das sind dieselben fundamentalen Fragen, die wir uns heute stellen müssen. Wie gehen wir mit Globalisierung um, mit dem Klimawandel, wie finden wir eine bessere Wohlstandsgesellschaft, wie behandeln wir Länder der »Dritten Welt«? Alles ist verbunden. Deshalb haben wir am Ende des Films auch die Bilder der großen Krise in den 1920ern, von Mandela hin zur Krise 2008, die fast das gesamte System zum Untergang gebracht hat, gesetzt. Das ist Marx. Marx hat uns die Werkzeuge gegeben, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir leben in demselben historischen Moment, und wir können die Werkzeuge anwenden, weil sich der Kapitalismus nicht grundlegend geändert hat und immer noch den Profit im Zentrum hat.
kreuzer: Das zeigt auch eine zentrale Szene im Film, wo Marx und Engels einen Industriellen zur Rede stellen, der seinen Profit mit Kinderarbeit generiert und sich herausredet, seine Konkurrenten täten dasselbe …
PECK: Ja, genau: »Wir sind nicht verantwortlich, der Markt ist verantwortlich.« So funktioniert das gesamte System noch heute. Also entweder ändern wir dieses System oder es wird ewig so weitergehen. Jene, die von diesem System profitieren, werden immer daran festhalten.