Von Marcel Leubecher EU-Staaten müssen Schutzsuchenden kein Visum erteilen, urteilen die Richter. Für Flüchtlinge gibt es somit auch künftig kaum legale Zugangswege. Damit wird der Tod von Tausenden Menschen in Kauf genommen.
Mehr darwinistisch als sozial ist die Art der Europäer, Flüchtlinge aufzunehmen: Wer genug Energie, Leidensdruck, Geld oder Abenteuerlust hat; wer das Ticket kaufen, das Meer überqueren, den Zaun stürmen kann, setzt sich durch. Diese illegal Eingereisten erhalten Schutz. Und wenn dieser nicht gewährt wird, erhalten sie trotzdem oft ein Bleiberecht.
Die übergroße Mehrzahl der Bedrohten dieser Welt versucht hingegen, die Dinge in der Heimat zum Besseren zu wenden, harrt aus, flieht innerhalb des eigenen Landes oder in die Flüchtlingslager der Region. Europa holt weder aus diesen Zentren nennenswerte Kontingente, noch erhalten viele Schutzsuchende vor Ort an den Botschaften ein Visum, um legal einreisen und dann einen Asylantrag in Europa stellen zu können.
Vorerst wird es keine Abkehr von diesem migrationspolitischen survival of the fittest geben: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht EU-Staaten nicht in der Pflicht, Schutzsuchenden in deren Herkunftsregionen ein Visum auszustellen. Aus dem Unionsrecht ließen sich keine derartigen Verpflichtungen ableiten, urteilte das oberste Gericht der EU am Dienstag. Maßgeblich sei allein das nationale Recht.
Christliche Familie befürchtete Folter
In dem Ausgangsverfahren für das EuGH-Urteil ging es um ein syrisches Ehepaar, das mit seinen drei Kindern aus Aleppo nach Belgien ziehen wollte. Die christliche Familie argumentierte insbesondere mit drohender Folter bei einem Verbleib in Syrien. Um dem zu entgehen, beantragten sie im belgischen Konsulat im Libanon Visa – doch das belgische Ausländeramt lehnte die Anträge ab.
Und zwar mit der Begründung, dass sich die Familie länger als die durch ein Visum bewilligten 90 Tage in Belgien aufhalten wolle – schließlich planten die Syrer, dort Asylanträge zu stellen, was sie auch zugegeben hatten. Für die Belgier war der Fall klar: Ein EU-Staat ist nicht verpflichtet, alle Menschen aus katastrophalen Situationen nach Europa zu lassen.
Dem hatte aber vor vier Wochen überraschend der zuständige Generalanwalt am EuGH widersprochen – mit dem Argument, dass der Familie in Europa unzweifelhaft Schutz gewährt worden wäre, wenn sie denn den Kontinent erreicht hätte. In solchen Fällen seien die EU-Staaten verpflichtet, Visa zu erteilen. Diese von linken Politikern und Einwanderungsaktivisten regelmäßig erhobene Forderung nach „mehr legalen Zugangswegen“ trieb den Migrationsbremsern in den Hauptstädten die Schweißperlen auf die Stirn, weil der EuGH in drei von vier Fällen den Bewertungen der Generalanwälte folgt.
Dabei stützte sich der Generalanwalt auf die Grundrechtecharta der EU. Sie greife hier, weil die Erteilung nationaler Visa von einer EU-Verordnung geregelt wird. Zwar ist richtig, dass die Charta nicht nur für jene gilt, die schon länger in der EU leben, sondern auch für solche, die neu dazugekommen sind. Sie gilt aber eben nicht für all jene, die noch hinzukommen wollen.
Dies führten die Luxemburger Richter zwar nicht explizit in ihrem Urteil an, doch sie betonten, dass ein solches Urteil das gesamte Konzept der EU-Flüchtlingspolitik infrage gestellt hätte, und verwiesen auf den Geltungsbereich des Visumkodex. Die Familie habe kurzfristige Visa beantragt, habe aber tatsächlich mit der beabsichtigten Asylantragstellung länger bleiben wollen. Der EU-Gesetzgeber habe aber keine Regelungen erlassen, unter welchen Voraussetzungen Nicht-EU-Bürger ein langfristiges Visum aus humanitären Gründen erhalten können. Da EU-Recht nicht greift, zähle allein das nationale, in diesem Falle also das belgische, Recht.
Die belgische Regierung zeigte sich erleichtert. Der zuständige Staatssekretär Theo Francken jubelte auf Twitter: „Yesss! Gewonnnen!“ Er hatte wiederholt davor gewarnt, dass eine Visavergabe an die syrische Familie einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen könnte, mit dem den EU-Staaten die Zuwanderungskontrolle weiter entgleiten könnte.
Zweifellos hätte ein Urteil zugunsten der Syrer in den europäischen Botschaften zu einem gewaltigen Ansturm auf Visa geführt. Der Gang in die nächste Botschaft hätte potenziell die teure und kräftezehrende Wanderung nach Europa ersetzt, die bisher die ärmsten und schwächsten von der Interkontinentalflucht abhält.
EU-Staaten befürchteten Ansturm der Antragsteller
Sie haben gegebenenfalls die legale Möglichkeit, über den Familiennachzug nach Europa zu kommen, wenn ein enger Angehöriger als Flüchtling anerkannt ist. Wie die „Welt“ zuerst berichtet hatte, wurden im vergangenen Jahr 105.000 Visa zum Familiennachzug erteilt, vor allem durch den Anstieg bei den Schutzberechtigten waren es 35.000 mehr als im Jahr zuvor. Zudem besteht in sehr wenigen Ausnahmefällen bereits jetzt die Möglichkeit, aus humanitären Gründen ein Schengen-Visum zu erhalten.
Es bedarf keiner großen Fantasie, um zu vermuten, dass viele EU-Staaten versucht hätten, den vom EuGH gebauten „legalen Zugangsweg“ für Verfolgte aus allen Ecken der Erde eigenmächtig abzusperren. Weil die unerlaubte Einreise von Schutzsuchenden meist über kurz oder lang zu einem Aufenthaltsrecht, dann zur unbefristeten Niederlassungserlaubnis und schließlich sogar oft zur Staatsbürgerschaft führt, ist schon heute der Widerstand in vielen Ländern groß, einen so zentralen Punkt wie die Zusammensetzung der eigenen Gesellschaft einer EU-Institution zu überlassen.
Tatsächlich hätte sich ein weiteres Mal die Frage der demokratischen Legitimität gestellt, wenn die Entscheidung, noch stärker Zuwanderung zu ermöglichen, am Dienstag in einem Luxemburger Gerichtssaal und nicht von den nationalen Gesetzgebern getroffen worden wäre.
Abgesehen von den vielen pragmatischen, demokratietheoretischen, utilitaristischen Argumenten gegen eine solche Erleichterung der Flucht in die attraktivsten Länder hätte sie einen offensichtlichen Widerspruch gelöst: Während einige EU-Staaten, allen voran Deutschland, unerlaubt eingereiste Menschen aufnehmen und mit großem Aufwand integrieren, verhindern sie, dass offensichtlich von Verfolgung bedrohte Menschen ein Visum erhalten, um legal einzureisen. Indem die EU-Staaten auch künftig kaum legale Zugangswege für Schutzsuchende anbieten, nehmen sie weiterhin in Kauf, dass Tausende im Mittelmeer sterben. Neben den Afrikanern, die einfach ein besseres Leben in Europa suchen, kommen auch viele Flüchtlinge über das Mittelmeer. Sie würden natürlich die legale Einreise mit einem humanitären Visum der gefährlichen Überfahrt vorziehen. Folglich würden weniger tatsächliche Flüchtlinge auf die Boote steigen und in der Folge auch weniger von ihnen ertrinken.
In die Heimststadt Aleppo zurückgekehrt
Über das Schicksal der syrischen Familie jedenfalls muss nun der belgische Rat für Ausländerstreitsachen entscheiden. Er hatte den EuGH um eine Einschätzung zu dem Fall gebeten.
Von den betroffenen Syrern wurde zunächst keine Reaktion auf das Urteil bekannt. Sie waren in ihre Heimatstadt Aleppo zurückgekehrt, nachdem sie im vergangenen Oktober im Libanon die Visa für die Einreise nach Belgien beantragt hatten. Als Grund für ihr Gesuch hatte die Familie unter anderem ihren christlich-orthodoxen Glauben angegeben, der sie der Gefahr einer Verfolgung aussetze.
Zudem gab einer der Ehepartner an, er sei von einer bewaffneten Gruppe entführt, geschlagen und gefoltert worden. Das lange in Regierungs- und Rebellengebiete geteilte Aleppo ist mittlerweile wieder ganz in der Hand der syrischen Regierung, die mit Christen deutlich besser umgeht als die von Islamisten dominierte syrische Opposition.