Wie Nazis nach dem Krieg Karriere machten

Erstveröffentlicht: 
06.03.2017
  • Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München erforscht die NS-Vergangenheit von früheren Beamten in bayerischen Spitzenbehörden.
  • 1,8 Millionen Euro stellt die Staatsregierung nach Angaben von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) für das Projekt zur Verfügung.
  • Mit ersten Zwischenergebnissen ist in zwei bis drei Jahren zu rechnen.

Von Hans Kratzer

 

Der Nazi-Vergleich des türkischen Präsidenten Erdoğan zeigt unmissverständlich auf, dass Deutschland wegen seiner NS-Vergangenheit auch 70 Jahre nach dem Ende des Spuks noch breite Angriffsflächen bietet. Immerhin muss man zugestehen, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik noch längst nicht abgeschlossen ist. Auf der Ebene der Regierungen und der Verwaltungen steht sie sogar erst noch bevor.

 

In Bayern wird nun erstmals in einem Bundesland wissenschaftlich untersucht, wie Ministerien und Behörden nach 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind. Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München hat den Auftrag erhalten, Politik und Personal in bayerischen Spitzenbehörden von 1945 bis 1975 zu durchleuchten. Mitte 2013 hatte der Landtag auf Initiative der Grünen fraktionsübergreifend "die wissenschaftliche Aufarbeitung einer etwaigen NS-Belastung von Mitgliedern der Staatsregierung, Angehörigen der Staatskanzlei und der Ministerien sowie der weiteren obersten Landesbehörden" beschlossen. Ein Historikerteam am Institut für Zeitgeschichte hat die Arbeit aufgenommen. Der Freistaat wird das1,8 Millionen Euro teure und auf sechs Jahre angelegte Projekt finanzieren.

 

Wissenschaftsminister Ludwig Spaenle bezeichnete das unter dem Titel "Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit" firmierende Forschungsvorhaben bei der Präsentation am Montag als ein "sehr wichtiges Projekt für die Zeitgeschichte und für die bayerische Landesgeschichte". Spaenle sprach von einer "dringlichen Aufgabe der Selbstvergewisserung". Erstmals wird damit ein zeithistorisches Projekt den personellen und funktionalen Gesamtzusammenhang des damaligen staatlichen Handelns von der Ministerialbürokratie bis hin zur Vollzugsebene in den Blick nehmen.

Ein zentrales Forschungsfeld bildet die Kontinuität von Eliten aus dem Dritten Reich im Bayern der Nachkriegszeit und in der jungen Bundesrepublik. Es geht dabei um die Frage, welches Personal nach 1945 in Behörden und Ämtern weitergewirkt hat, wie viele Beamte, die den Nationalsozialisten nahestanden, in hohen Positionen verblieben sind. "Dabei werden auch Brüche beim Neuanfang und beim Wiederaufbau deutlich werden", sagte Spaenle. Das Projekt soll etwa aufzeigen, wie stark Kräfte aus der Weimarer Republik, die unter dem Hakenkreuz ihrer Funktionen enthoben und nicht selten verfolgt wurden, den Neuanfang 1945 mitgeprägt haben.

 

Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, verwies auf die hohe Zahl früherer NSDAP-Mitglieder zum Beispiel im Apparat des Bundesinnenministeriums. 60 bis 70 Prozent der leitenden Beamten sind dort über das Jahr 1945 hinaus im Amt geblieben. "Das kann man nicht wegdiskutieren", sagte Wirsching. Deshalb soll die Aussagekraft solcher Zahlen geprüft werden. Was haben solche Akteure vor 1945 getan? Liegen noch andere Belastungsfaktoren als die Partiemitgliedschaft vor? Insgesamt soll deutlich werden, wie der demokratische Neuaufbau des Landes auf dieser Basis gelingen konnte. Deshalb werden Karriereverläufe und Personalpolitik analysiert, die Verwaltungspraxis durchleuchtet und untersucht, wie die Akteure ihre Vergangenheiten deuteten.

 

Unterstützt wird das Projekt durch eine Expertenkommission von Zeit- und Landeshistorikern. Außerdem kooperiert das IfZ eng mit der Generaldirektion der Bayerischen Staatlichen Archive. Der Freistaat Bayern eignet sich als Untersuchungsregion insofern, als er als einziges Flächenland nach 1945 seine territoriale und administrative Kontinuität fortsetzen konnte.

 

Den Gesamtzusammenhang einer Landesregierung von der Ministeriumsspitze bis hinunter auf die Vollzugsebene in den Blick zu nehmen, heißt für die Forscher aber auch, sich durch riesige Aktenberge aus Staatskanzlei, Finanzverwaltung, Landeskriminalamt, Kultusbürokratie und Gesundheitsämtern wühlen zu müssen. Durch diese Arbeit aber sollen, wie Wirsching ausführte, die inneren Verbindungslinien deutlich werden, etwa zu der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik mit ihren furchtbaren Praktiken. Es stellt sich die Frage, wer damals Posten in den Gesundheitsämtern inne hatte und wie die Regierungsbeamten reagierten.

 

Mit ersten Zwischenergebnissen des Projekts ist laut Wirsching in zwei bis drei Jahren zu rechnen.