Im öffentlichen Raum stößt man immer öfter auf Überwachungskameras. Deren Technik könnte bald auch zur Verhaltenskontrolle dienen. Eine forsche Vorhersage, mit der unser Kolumnist praktische Fragen der nahen Zukunft aufwirft.
Zeit für eine forsche Vorhersage*:
In fünf Jahren ist Ihr Gesicht Ihr Personalausweis. Deshalb werden Sie Ihr Verhalten ändern.
Es ist nur die Frage, ob Sie es bemerken werden. Bemerken sollen. Soeben wird bekannt, dass Sie demnächst am Südbahnhof in Berlin diese Zukunft schon mal vorkosten können. Dort wird ein Projekt des Bundesinnenministers umgesetzt, das verharmlosend "intelligente Videoüberwachung" genannt wird: Gesichtserkennung per Überwachungskamera.
"Na watt denn", sagt dazu der Berliner. Er erklärt einer Umfrage zufolge zu 80 Prozent, dass er mehr Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen gut findet. Der hohe Wert ist anhand der nicht nur irrationalen Angst vor Gewaltverbrechen und Terror nachvollziehbar. Mehr Überwachung wird seit Jahren als Allheilmittel vermarktet. Einige spektakuläre, fürchterliche Taten wurden durch Videoüberwachung bekannt und aufgeklärt.
Worauf wir zusteuern, ist aber viel umfassender als der simple Begriff "Videoüberwachung" verheißt. Der Versuch in Berlin beinhaltet nämlich eine Reihe neuer digitaler Technologien. Um deren Wirkung zu verstehen, braucht man Hintergrundwissen. Die Kameras können nicht nur Gesichter erkennen, sondern beispielsweise auch typische Verhaltensmuster von Taschendieben.
Umfassendes Überwachungssystem
Dahinter stehen zwei maßgebliche Entwicklungen der vergangenen Jahre: die automatisierte, inhaltliche Auswertung von Bildern und Filmen. Sowie die automatisierte Mustererkennung menschlicher Verhaltensweisen. Videokameras sind deshalb nicht mehr das, wonach sich das Wort immer noch anhört, nach einem Raum voller Bildschirme mit ein paar kaffeetrinkenden Sicherheitskräften darin.
Die Kameras sind die Spitze eines umfassenden, intelligenten Überwachungssystems für mehr gesellschaftliche Kontrolle - Kontrolle auch über Sie.
Nach den Anschlägen beim Bostoner Marathon wurde dort "AISight" installiert. Es ist das bekannteste einer Reihe von Systemen, die alle ähnlich funktionieren wie jenes, das in Berlin eingesetzt werden soll: Die Gesichtserkennung erlaubt die Identifikation, die Verhaltensmusteranalyse erlaubt die Erkennung potenziell gefährlicher oder zweifelhafter Situationen, jedenfalls in der Theorie. Die meisten dieser Systeme sind nämlich gleichzeitig gruselig machtvoll und gruselig fehleranfällig. Zudem versprechen sie aus Marketinggründen mehr, als sie im Zweifel halten können. Aber es ist nur ein kleiner Schritt von automatisierter Verhaltensanalyse zur Verhaltenssteuerung.
Iris-Scan aus zwölf Metern Entfernung
Früher oder später wird die digitale Gesichtserkennung ausreichend treffsicher sein, um Ihr Gesicht zu einem digitalen Nummerschild für Fußgänger zu machen. Oder einen Teil des Gesichts. Im März 2015 stellte ein Wissenschaftler der Carnegie Universiy eine Erfindung vor, mit der die Iris einer Person aus zwölf Metern Entfernung gescannt werden kann. Ohne dass man es bemerkt.
Die Iris des menschlichen Auges ist zur Identifikation ähnlich eindeutig wie der Fingerabdruck. Länder wie die Vereinigen Arabischen Emirate sammeln Iris-Scans aller Ein- und Ausreisenden. In Indien sind 99 Prozent der volljährigen Menschen in einem System namens Aadhaar registriert, das die Identifikation anhand von Fingerabdrücken und Iris-Fotos erlaubt. Schon wird die forsche Vorhersage weniger absurd.
In Deutschland mögen Datenschutz und Privatsphäre bei der Befragung in Fußgängerzonen als "ist mir total wichtig!" bezeichnet werden. Aber schon die Probleme, die sich bei der Identifikation von Flüchtlingen ohne Papiere ergeben, dürften im gegenwärtigen politischen Klima ausreichen, um die Debatte umzukehren. Es wird dann nicht heißen: Warum muss Gesichtserkennung zur Identifikation kommen? Sondern: Warum kommt das nicht? Das haben sich vermutlich auch die EU-Innenminister gedacht, als sie Ende Januar 2017 in Malta darüber berieten, der EU-weiten Gesichtserkennung den Weg zu ebnen.
Wohlverhalten durch Kontrolle
Die Frage, warum genau das Gesicht als Nummernschild schlimm sein soll, ist leider nicht so einfach zu beantworten, wie die Kämpfer gegen anlasslose Überwachung (zum Beispiel ich) es gern hätten. Denn man muss, um die Tragweite zu begreifen, das Konzept der Kontrollgesellschaft verstehen, formuliert durch den französischen Philosophen Gilles Deleuze.
Etwas vereinfacht bedeutet es, dass gesellschaftliches Wohlverhalten durch ständige Überwachung und Kontrolle erreicht wird. Der wesentliche Mechanismus ist dabei, dass man zu diesem Wohlverhalten nicht offen gezwungen wird - sondern sich selbst zwingt. Weil man Angst vor den Folgen hat. Oder umgekehrt für Wohlverhalten belohnt werden möchte.
Wer jetzt ruft "Aber ich habe nichts zu verbergen" - begeht gleich drei Fehler auf einmal. Der erste: Doch. Jeder hat etwas zu verbergen. Es ist das Wesen der Privatsphäre, selbst entscheiden zu können, welche persönlichen Informationen man preisgibt. Der zweite: Die technologischen Möglichkeiten werden unterschätzt. Zum Beispiel lässt sich per Iris-Scan inzwischen mit immer größerer Genauigkeit erkennen, ob und wie viel Alkohol jemand im Blut hat. Die Flut neuer Sensoren und Auswertungsmethoden bedeutet, dass sich aus der Distanz automatisiert immer intimere Daten über Sie erkennen lassen.
Der größte der drei Fehler aber ist: Wohlverhalten ist kein feststehendes Konstrukt, sondern entwickelt sich weiter. Was hindert die Kameraüberwacher daran, das in manchen Städten bestehende Alkoholverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln per Videoüberwachung zu kontrollieren? Und demjenigen, der zum dritten Mal mit einer Dose Feierabendbier von einer U-Bahn-Kamera aufgezeichnet wird, Hausverbot auszusprechen? Angenommen, aus Gründen des Klimaschutzes würde die Bahn den Fleischkonsum auf ihrem Gelände untersagen - trauten Sie sich noch, mit einem Würstchen in den Zug zu steigen?
Praktische Fragen der nahen Zukunft
Das sind keine theoretischen Fragen, sondern die praktischen Fragen der nahen Zukunft. Und sie offenbaren das Grundproblem der Kontrollgesellschaft und damit von "intelligenter Überwachung" im Alltag: Kontrolle fühlt sich um so mehr an wie Freiheit, je "normaler" man ist, je mehr man dem gesellschaftlich erwünschten Bild entspricht. Visuell und vom Verhalten her. Und das wirkt zurück auf das eigene Verhalten: Nach einem anstrengenden Tag im Büro möchte man auf der Heimfahrt keine Probleme bekommen, man kann ja nicht ständig kämpfen. Also verhält man sich so unauffällig wie möglich. Was immer das in drei, fünf oder zehn Jahren unter kommenden Regierungen bedeuten mag.
Die forsche Vorhersage lautet: In fünf Jahren ist Ihr Gesicht Ihr Personalausweis. Aber zugegeben, sie verliert etwas an Forschheit, wenn noch in diesem Jahr auf australischen Flughäfen genau das eingeführt wird. Das Progamm "Seamless Traveller" startet 2017 und ersetzt die Passkontrolle durch Gesichts- und Iris-Erkennung. Man wird nicht einmal mehr seinen Gang verlangsamen müssen. Jedenfalls nicht, wenn man aussieht, als würde man keine Scherereien machen.