Keine »Distanzierungsspiele«

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Erstveröffentlicht: 
13.02.2017

Theorie und Praxis: Rund 400 Teilnehmer kamen am Wochenende zur Aktionskonferenz »G 20 entern« in Hamburg Von Kristian Stemmler, Hamburg

 

Sie wollen den Kapitalismus nicht zähmen, reformieren oder irgendwie transformieren, sondern »versenken«. Auf dem Campus der Universität Hamburg trafen sich am Samstag rund 400 Menschen zur Aktionskonferenz von »G 20 entern«, dem wohl radikalsten Flügel der Protestbewegung gegen das Gipfeltreffen der Regierungschefs der 19 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und Vertretern der EU am 7. und 8. Juli in der Hansestadt. Theoretischer Input, praktische Vorbereitung und Austausch untereinander – all das ermöglichte die Konferenz.

 

Im Hörsaal des Unigebäudes war Schwarz an diesem Tag die vorherrschende Farbe. Am Dresscode war erkennbar, dass die Mehrzahl der Zuhörer zu autonomen Gruppen gehörte. Gleich zu Beginn unternahm der Autor Tomasz Konicz mit dem Plenum einen Streifzug durch die jüngere Geschichte des nach seiner Ansicht kollabierenden Kapitalismus. So nüchtern sein Vortrag daherkam, so explosiv war der Inhalt.

 

Der Kapitalismus untergrabe sein eigenes Fundament, weil er Erwerbsarbeit immer überflüssiger mache, erklärte Konicz, der sich in seinen Analysen auf den Theoretiker Robert Kurz bezieht. Der Zwang zur ständigen Expansion stelle die politische Klasse vor eine unlösbare Aufgabe, wobei die Krise nicht erst sieben Jahre, sondern bereits 30 bis 40 Jahre andauere. Nach einer Phase der Nachkriegsprosperität habe, so Konicz, »ironischerweise« mit dem Neoliberalismus eine Politik begonnen, die zu »gigantischen Schuldenbergen« geführt habe.

 

Der Kapitalismus lebe heute nur noch »auf Pump«, die Schulden seien zur Systemvoraussetzung geworden. »Auch das europäische Haus ist auf ständig wachsenden Schuldenbergen aufgebaut«, so der Referent. Deutschland verdanke seinen wirtschaftlichen Erfolg den »explodierenden Handelsüberschüssen«, einer »Verelendungsstrategie« mit Hartz IV und niedrigen Lohnstückkosten sowie dem Euro, der es allen anderen EU-Ländern unmöglich mache, wie früher mit Abwertung ihre Volkswirtschaft zu schützen.

 

Bezahlen müssten für Deutschlands Erfolge zum einen die Marginalisierten im eigenen Land, zum anderen die Staaten des europäischen Südens von Griechenland bis Portugal. Konicz sagte, er gehe von einer »permanenten Deindustrialisierung« dieser Länder aus, einer »Lateinamerikanisierung Europas mit Deutschland als den USA«. Man müsse mit Verhältnissen rechnen, die zwischen denen des Orwell-Romans »1984« und denen des Films »Mad Max« angesiedelt seien. »Mad Max« spielt in einer Zukunft, in der motorisierte Banden mit der nicht minder brutal agierenden Polizei um die Vorherrschaft kämpfen.

 

Nach diesem fulminanten Auftakt folgte ein Vortrag von Peter Schaber vom Lower class magazine, der allerdings nicht anwesend sein konnte, sondern per Video zugeschaltet war. Er erläuterte, wie sich die G-20-Staaten »um ihre Beute schlagen«, etwa in der Ukraine und Syrien. Aktivisten vom »Revolutionären Aufbau Schweiz« berichteten über ihre Praxis, ein Vortrag der anarchistischen »Gruppe Bellini« aus Griechenland wurde verlesen. In Arbeitsgruppen wurden Fragen der Anreise, Übernachtung und Mobilisierung zu den Gipfelprotesten erörtert, es gab Workshops zu den Themen Kurdistan, Trump, Imperialismus und Rechtshilfe bei Demos.

 

Zufrieden mit dem Verlauf der Aktionskonferenz zeigte sich Timo von »G 20 entern« im Gespräch mit junge Welt. Man verstehe sich nicht als festes Bündnis, sondern sei offen für alle, die revolutionär und antikapitalistisch agierten. Auch halte man alle Formen von Widerstand für legitim und werde sich nicht an »Distanzierungsspielen« beteiligen. Zu den G-20-Protesten erwarte er Tausende Aktivisten aus dem In- und Ausland. Mit Blick auf die voraussichtliche Polizeistrategie und mögliche Auseinandersetzungen sagte er: »Nach meiner Einschätzung stolpert in Hamburg mindestens der Innensenator über G 20, wenn nicht der Bürgermeister.«

 

Am Abend bekamen die Konferenzteilnehmer einen Eindruck davon, wie Hamburgs Polizei bereits knapp fünf Monate vor dem G- 20-Gipfel auf jeden linken Protest reagiert. Rund 70 Aktivisten zogen zum Messegelände, dem Veranstaltungsort des Gipfels. Die Gegenseite bot zwei Hundertschaften und drei Wasserwerfer auf.