Es geschah kurz nach Mitternacht. Nicole Jordan lag eigentlich schon im Bett, sie stand noch einmal auf und ging in die Küche, weil sie Durst hatte. Da hörte sie ein dumpfes Geräusch. Bomm, bomm, bomm. Sie schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit und sah nichts, ihr Mann eilte nach unten in den Hof und kam gleich wieder zurück. "Ruf die Polizei", rief er.
Seit dieser Nacht zum 11. Dezember sieht das kleine Haus von Familie Jordan am Deich in Wilhelmsburg aus wie das moderne Kunstwerk eines nicht besonders talentierten Künstlers. Sieben Einschläge von Farbbomben hat Nicole Jordan an der Fassade gezählt, in drei verschiedenen Farben. Aus ihrem Küchenfenster schaut sie bis heute durch schwarze Spritzer. Sie hat die Farbe nicht entfernt. "Es hat keinen Sinn, das wegzumachen", sagt Jordan, "das kostet Zeit, Kraft und unnötig Geld – und wie lange hält das dann in der jetzigen politischen Situation, vielleicht vier Wochen?"
Soll doch jeder sehen, was für ein Demokratieverständnis ihre Gegner haben, findet sie.
Die Jordans werden seit sieben Monaten immer wieder von politischen Gegnern heimgesucht, die sie einschüchtern und aus Wilhelmsburg vertreiben wollen. Doch je mehr sich die linken Angreifer auf die Familie einschießen, desto weniger wahrscheinlich wird es, dass sie ihr Ziel erreichen.
Im Gegenteil. Jede Aktion wird auch von der anderen Seite genutzt, um Stimmung zu machen. So heizt sich langsam etwas auf. Wer die Befürchtung hat, dass es im Wahljahr 2017 verstärkt zu Hass, persönlichen Anfeindungen und Angriffen kommen wird, der kann in Wilhelmsburg schon einmal beobachten, wie das aussieht. Und wozu es führt.
"Ich bin eine harte Gegnerin der AfD, aber gegen Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung, das führt zu nichts", sagt Christiane Schneider, Bürgerschaftsabgeordnete der Linken, "das schaukelt sich hoch auf beiden Seiten, und man weiß nicht, wo die Grenze ist." In Ostdeutschland gebe es Angriffe auf Wahlkreisbüros der Linken, es entstehe eine gewaltgeladene Atmosphäre. "Das wird im Wahlkampf zunehmen", sagt Schneider, "mir macht das richtig Angst."
Nicole Jordan, 42, rot gefärbte Haare, ist Schatzmeisterin der Hamburger AfD. Sie ist auch Vorsitzende der Partei im Bezirk Mitte, ins Parlament gewählt wurde sie noch nie. Den allermeisten Hamburgern ist sie unbekannt, was auch daran liegt, dass sie bisher kaum mit eigenen politischen Ideen an die Öffentlichkeit getreten ist. "Ich bin eigentlich nur ein ganz kleines Licht in der AfD", sagt sie selbst, "ich frage mich, warum die sich so auf mich eingeschossen haben."
Warum? Ihre Gegner treten anonym auf, tarnen sich mit falschen Namen, nutzen ausländische Internetserver, man kann sie nicht fragen. Liest man die Vorwürfe, fällt auf, dass sie allgemein bleiben: Nicole Jordan sei eine Rassistin, weil sie in der AfD sei. Die AfD hetze gegen Flüchtlinge, deshalb müssten ihre Vertreter zur Rechenschaft gezogen werden. Das Wohnhaus von Nicole Jordan war bis vergangenen September auch die Postanschrift der AfD-Landesgeschäftsstelle, womöglich hat das die Gegner auf sie aufmerksam gemacht. Es wirkt, als attackierten die Angreifer sie und ihr Haus stellvertretend für eine verhasste Partei.
Inzwischen ist die AfD-Schatzmeisterin eine kleine Berühmtheit geworden, zumindest in den linken und rechten Randbezirken der Politik: Im Netz feiern sich Vertreter der Antifa für ihre Angriffe. Und auf rechten Seiten empören sich AfD-Anhänger über jede Attacke. Manche rufen sogar zur Selbstbewaffnung auf, um sich zu verteidigen.
Die Propaganda floriert auf beiden Seiten. Nicole Jordan hat es bis auf die US-Internetseite breitbart.com geschafft, jenes Kampfmedium, das mit allen Mitteln für Donald Trump warb und dessen ehemaliger Chef als Top-Berater des US-Präsidenten jetzt ins Weiße Haus eingezogen ist. Hundert Kommentare stehen unter dem Artikel, die Schreiber sind sich einig: Die wahren Faschisten seien die Linken.
So haben die Angriffe auf die Jordans eine beachtliche Wirkung, weit über eine verschmutzte Fassade hinaus: Sie steigern den Hass.
Ein Flugblatt wie ein Steckbrief
Vergangenen Sommer fing alles an, mit einem Flugblatt, das plötzlich überall in Wilhelmsburg hing, auch an der Laterne vor dem Haus der Jordans. Es sah aus wie ein Steckbrief. "Achtung, Rassist_innen im Viertel", lautete die Überschrift. Darunter prangte ein Foto von Nicole Jordan, ihr Kopf war mit einem Kreis und einem Pfeil markiert. Daneben stand groß die Adresse der Familie. Wer die menschenverachtende Politik der AfD öffentlich vertrete, "muss dafür zur Verantwortung gezogen werden", hieß es im Text. Auch der Name von Jordans 17-jähriger Tochter wurde genannt, weil sie im Vorstand der AfD-Jugendorganisation ist. Die Verfasser versteckten sich hinter einem falschen Namen, nur das Logo einer "Antifaschistischen Aktion" deutet auf die Absender hin.
Der Steckbrief war der erste Vorfall, am 15. Juni des vergangenen Jahres. Dann ging es laut Nicole Jordan in dieser Reihenfolge weiter:
– Am 17. Juni erscheint auf einer Internetseite linksunten.indymedia.org ein "Outing" der Familie Jordan mit Anschrift, Mailadresse und Telefonnummer.
– Im Juli sprühten Unbekannte "Fuck AfD" auf den Briefkasten der Familie. Auch an der Unterführung nahe des Hauses prangt der Spruch.
– Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, wollen die Jordans ein Grillfest mit AfD-Mitgliedern feiern. In anonymen Flugblättern wird dazu aufgerufen, die Feier zu stören. Die Polizei ist überrascht von den mehreren Hundert Protestierern und muss Verstärkung anfordern. Auf dem Hinweg wird ein AfD-Mitglied eingekreist, bespuckt und mit Bier bespritzt, Polizisten geleiten den Mann zur Feier. Demonstranten blockieren eine Straße, die Polizei setzt einen Wasserwerfer ein, um sie zu räumen. Mit zwei Tretbooten versuchen Protestierer, von hinten auf das Gelände zu kommen, die Wasserschutzpolizei schreitet ein. Abends auf dem Heimweg bringen Polizisten die Gäste zu ihren Autos; diese berichten später, sie seien bespuckt und mit Fahrrädern verfolgt worden. An der Ampel hätten Demonstranten gegen die Autos getreten, ein Demonstrant habe sich auf die Motorhaube eines Wagens geworfen und behauptet, er sei angefahren worden. Zwei Protestierer hätten versucht, einen älteren Besucher Anfang 60 vom Motorrad zu ziehen.
– Wenige Tage nach der Feier steht "Fuck AfD" jetzt auch in meterhohen Buchstaben auf dem asphaltierten Weg neben dem Haus.
– Ende Oktober steckten Unbekannte neue Flugblätter in die Briefkästen der Nachbarschaft. Neben einem Foto von Nicole Jordan ist auch eines ihrer Tochter abgedruckt, aufgenommen bei der Feier am 3. Oktober. "Wir haben keine Lust auf die Alternative für Deutschland und rassistische PolitikerInnen in unserer Nachbarschaft oder sonst wo" steht da, unterzeichnet von "Einigen Nachbar_innen".
– In ihrer November-Ausgabe veröffentlicht die Stadtteilzeitung Wilhelmsburger Inselrundblick ein anonymes Schreiben. Nicole Jordan und ihre Tochter werden als "Rassist*innen" bezeichnet.
– In der Nacht zum 11. Dezember werfen Unbekannte mehrere mit Farbe gefüllte Gefäße gegen die Fassade des Wohnhauses der Familie.
– An Silvester bekommen die Jordans Besuch von einer befreundeten Familie. Als der Vater seine zweijährige Tochter aus dem Auto holt, trifft ein Ei die Heckscheibe des Wagens.
– Anfang Januar brüllt ein Radfahrer Nicole Jordans Mann auf der Straße an: "Rassistenschwein, verpiss dich!"
Zehn Anfeindungen und Angriffe in sieben Monaten, was löst das aus? Nicole Jordan sitzt in ihrer Küche mit schwarz gesprenkeltem Fenster, vor sich eine Tasse Rooibostee. Sie spricht mit ruhiger Stimme, die manchmal etwas Trotziges bekommt. Laut wird sie nie.
Sie war früher in der SPD und der Gewerkschaft ver.di. Manche ihrer Positionen würden auch heute noch in die SPD passen, zum Beispiel, wenn sie sich über die Ausbeutung von Osteuropäern aufregt, der Arbeiterstrich von Wilhelmsburg ist nicht weit entfernt. Andererseits teilt sie auf Facebook neben Rezepten für den besten Käsekuchen der Welt mittlerweile auch Sprüche wie: "Wir sind nicht fremdenfeindlich, aber wir haben was gegen feindliche Fremde, die unser Volk töten." Sie war einst Hamburger Meisterin im Judo, danach trainierte sie 22 Jahre lang Jugendliche, Türken, Portugiesen, Russen. Inzwischen hat sie ihren alten Job gekündigt und arbeitet in der AfD-Fraktion. Die Partei ist jetzt ihr Leben.
"Ich lasse mich nicht einschüchtern", sagt sie, "ich ändere meine Meinung nicht, ich gehe eher in Angriffsstellung und sage: Jetzt erst recht! Vom Judo habe ich gelernt: Gegenhalten ist die richtige Taktik."
Sie erzählt von der Einheitsfeier, als sie um ihr Grundstück etwa 400 "Antifanten" zählte, wie sie die Linken von der Antifa nennt. Bis zu diesem Tag habe sie hier nie das AfD-Logo gezeigt, doch dann habe sie beschlossen: "Jetzt hänge ich Banner und Schilder an den Zaun. Eine Trotzreaktion."
"Das ist hier wie im Zoo mittlerweile."
Was die Angriffe bei Nicole Jordan auslösen: Trotz. Wut. Das Gefühl, ein Opfer zu sein. Es verstärken sich genau jene Emotionen, aus denen sich die AfD speist. Die Angriffe schwächen das System AfD nicht, sie nähren es, dank des Internets weit über Hamburg hinaus.
Auf Facebook keilt Nicole Jordan zurück. Nach dem "Farbbombenanschlag", wie sie ihn nennt, schrieb sie: "Wie erbärmlich seid Ihr linken Terroristen eigentlich? Wie die Ratten kommen sie nachts aus ihren Löchern." Sogleich sprang ihr in den Kommentaren die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch zur Seite: "Erbärmlich. Courage! Das schaffen wir gemeinsam."
Und dann gibt es da noch ein weiteres Gefühl, aus dem sich die AfD nährt: Angst. Am 19. November stand Nicole Jordan vor dem Hauptbahnhof, sie hatte zum ersten Mal eine Demonstration angemeldet, "Mehr Sicherheit für Hamburg", hieß es im Titel. Jordan schrie in ein Mikrofon, sie war kaum zu hören zwischen den mehr als 1000 Gegendemonstranten. Sie rief, dass rohe Gewalt und Messerstechereien zugenommen hätten, dass sie kein gutes Gefühl mehr habe. Sie habe Angst, wenn ihre 17-jährige Tochter allein unterwegs sei. Sie schrie: "Wie weit ist es gekommen!"
Diese Angst – vielleicht rührt sie von den Horrornachrichten, die AfD-Anhänger auf Facebook verschicken, sobald irgendwo in Europa ein Araber eine Straftat verübt hat. Vielleicht kommt sie aber auch daher, dass Nicole Jordan und ihre Familie seit sieben Monaten in ihrem eigenen Viertel tatsächlich bedroht werden.
Ihre Tochter traut sich abends nicht mehr alleine aus dem Haus. Im kommenden Sommer will sie sich nicht mehr im Garten sonnen, aus Angst, dass die Bilder auf linken Seiten im Netz landen. "Vor unserem Haus bleiben immer öfter Leute stehen und gaffen", sagt die Abiturientin, "das ist hier wie im Zoo mittlerweile."
Nicole Jordan sagt, sie sei froh, dass sie einen Zaun ums Grundstück habe. Der AfD ist sie enger verbunden denn je. Zur Bundestagswahl will sie als Direktkandidatin im Wahlkreis Mitte antreten, auch zwei Feiern soll es auf ihrem Grundstück wieder geben, sie wird die Polizei rechtzeitig vorwarnen. "Das wird ein aufregendes Jahr", sagt sie.
Ein friedliches eher nicht.
Der Autor begleitet die AfD in Hamburg seit drei Jahren. Er wurde auf AfD-Demonstrationen schon als Vertreter der »Lügenpresse« beschimpft. Für diesen Artikel traf er Nicole Jordan zweimal mehrere Stunden lang in ihrem Haus in Wilhelmsburg. Er ließ sich für alle Behauptungen Belege und Fotos zeigen. Ihre wörtlichen Zitate schickte er Jordan noch einmal per E-Mail zu, sie konnte sie auf Richtigkeit prüfen und nahm nur wenige Änderungen vor. Auch mit den Verfassern der Flugblätter hätte der Autor gern gesprochen – doch die treten nur anonym auf.