Stendaler Wahlskandal - Prozess gegen früheren Freizeit-Politiker beginnt

Holger Gebhardt. Foto: CDU Stendal
Erstveröffentlicht: 
07.01.2017

Stendal - Der steinerne Riese trägt Schnurrbart und in der gepanzerten Faust ein gewaltiges Schwert. Kolossale 5,41 Meter misst die Rolandsfigur von Stendal, seit 1525 bewacht sie vor dem Rathaus das städtische Recht und die städtische Freiheit. An einem Sommertag vor zwei Jahren aber war der Roland einfach weg.

 

Von Hagen Eichler

 

Etwas, das jeder in der Stadt für eine unerschütterliche Konstante hielt, fehlte plötzlich. Auch wenn es Denkmalpfleger waren, die den Roland für eine Sanierung abgeholt hatten: Der leere Sockel wirkte wie ein Symbol. Kurz zuvor hatten die Stendaler erfahren, dass Recht und Freiheit, die Pfeiler der Demokratie, keineswegs so unerschütterlich sind. Die Kommunalwahl vom Mai 2014, stellte sich heraus, war in großem Stil gefälscht.

Stendaler Wahlskandal: Prozess gegen einstigen CDU-Stadtratsmitglied Holger Gebhardt

An diesem Dienstag beginnt im Stendaler Landgericht die juristische Aufarbeitung des Skandals. Wegen Urkunden- und Wahlfälschung angeklagt ist das einstige CDU-Stadtratsmitglied Holger Gebhardt. Nach zwei Jahren Ermittlung will die Staatsanwaltschaft belegen, dass sich der frühere Freizeit-Politiker mit krimineller Energie Briefwahlunterlagen beschafft hat, Unterschriften fälschte und in 160 Fällen die Stimmzettel selbst ausfüllte. Da jeder Wähler drei Stimmen für die Stadtratswahl und drei Stimmen für die Kreistagswahl hatte, geht es um 960 gefälschte Stimmen – in der Geschichte Sachsen-Anhalts ein beispielloser Fall.

Von einem „schwarzen Fleck in der Stadtgeschichte“ spricht Oberbürgermeister Klaus Schmotz. Mit scharfen Worten kritisiert auch Landrat Carsten Wulfänger die Manipulationen. Allerdings: Im Sommer 2014 versuchten beide, die verfälschten Resultate für gültig erklären zu lassen. Schmotz wie Wulfänger gehören der CDU an, die von den Fälschungen profitierte. Vor Gericht geht es nun auch um die Frage, ob Gebhardt tatsächlich ein isolierter Einzeltäter war – oder ob er in seiner Partei Mitwisser hatte.

Holger Gebhardt: Seine Tätigkeit im Jobcenter spielt eine entscheidende Rolle für den Skandal

Gebhardt war keiner der Wichtigen in der Stendaler CDU. Dass er dem Stadtrat angehörte, wussten nur die wenigsten in der Stadt. „Er war unscheinbar. Hat keine großen Reden gehalten, um sich zu profilieren“, sagt Landrat Wulfänger. Für die CDU-Kreistagsfraktion führte Gebhardt die Protokolle. Oberbürgermeister Schmotz stellte den Parteifreund ohne Ausschreibung im Rathaus ein, um ihn ans Jobcenter zu delegieren.

Die Tätigkeit im Jobcenter spielt eine entscheidende Rolle für den Skandal. Denn dort besorgte sich Gebhardt nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft die Namen und Adressen, die er für seine Fälschungen brauchte. Es ging um die Daten von Menschen, von denen Gebhardt annehmen konnte, dass sie nicht zur Wahl gehen würden – vom Leben gebeutelte, frustrierte Menschen. Mit gefälschten Unterschriften soll Gebhardt deren Briefwahlunterlagen angefordert haben. Das ist ein riskantes Spiel: Geht einer dieser Wähler doch ins Wahllokal, fliegt der Betrug auf. Im Wählerverzeichnis ist jeder markiert, der seine Stimme bereits abgegeben hat.

Skandal in Stendal: Betrug fliegt bereits am Wahltag auf

Das Unfassbare: Der Betrug fliegt bereits am Wahltag auf – und bleibt dennoch ohne Konsequenzen. Ein junger Mann stellt im Wahllokal verblüfft fest, dass seine Stimme bereits im Kasten ist. Er lässt sich die Unterschrift zeigen, mit der er angeblich selbst die Briefwahlunterlagen angefordert hat. Er bezeichnet die Unterschrift als Fälschung. Stadtwahlleiter Axel Kleefeldt, auch er CDU-Mitglied, wird später sagen, über diesen Zwischenfall habe man ihn nicht informiert.

Unbeirrt plädiert Kleefeldt noch Wochen später dafür, das Ergebnis als gültig anzuerkennen. Dabei hatte er längst eingeräumt, dass eine wichtige Sicherung gegen die Fälschung von Briefwahlen umgangen worden war. Im Auftrag anderer dürfen Bevollmächtigte die Briefwahlunterlagen für maximal vier Wähler abholen. In ganz Sachsen-Anhalt halten sich die Behörden daran. Einzig in Stendal, wird später das Innenministerium feststellen, überlassen Rathaus-Mitarbeiter Einzelnen mehr Unterlagen als erlaubt. Es sind Freunde, Parteikollegen, Familienangehörige, die Gebhardt losschickt, um keinen Verdacht zu erregen. Auch CDU-Kreischef Wolfgang Kühnel ist darunter.

Sichergestellte E-Mails und Chat-Protokolle belegen das betrügerische System

Für jeden politisch Erfahrenen muss klar sein, dass bei Gebhardts Wahlergebnis Betrug im Spiel ist. Magere 148 Stimmen sammelt der Kandidat in den Wahllokalen ein. Als auch die Briefwahl ausgezählt ist, schnellt das Ergebnis jedoch um sagenhafte 689 Stimmen nach oben, obwohl nur ein kleiner Teil aller Wähler seine Stimme auf diesem Weg abgibt. Wie kann das sein? Der wichtigste Mann der Stendaler CDU, der Landtagsabgeordnete Hardy Peter Güssau, erzählt später treuherzig, Gebhardt habe eben besonders intensiv um die Stimmen von Briefwählern geworben.

Dass das fehlerhafte Handeln im Rathaus, unerklärlich gefälschte Unterschriften und das verblüffende Einzelergebnis von Gebhardt zusammengehören und als Skandal erkannt werden, ist vor allem das Verdienst des Stendaler Journalisten Marc Rath. Der Redakteur der Volksstimme fragt nach und deckt Widersprüche auf. Im Herbst 2014 lässt die Staatsanwaltschaft die CDU-Kreisgeschäftsstelle und Privatwohnungen durchsuchen. Sichergestellte E-Mails und Chat-Protokolle belegen das betrügerische System. Sie zeigen auch, dass beim Versuch, das verdächtige Wahlergebnis irgendwie zu retten, eine prominente Figur mitgemischt hat: der Landtagsabgeordnete Güssau. Der rückt im Frühjahr 2016 zum Landtagspräsidenten auf und wird somit oberster Repräsentant der Demokratie im Land. Als sich im August die kritischen Fragen zu seiner Rolle auch in der Landes-CDU mehren, tritt er zurück - ohne eigene Fehler einzugestehen. Pressefragen will er heute nicht beantworten.

Die Stendaler CDU rückt in der Krise eng zusammen. Einen Steinwurf vom Roland entfernt, im Hotel Schwarzer Adler, kommt im Herbst 2016 der CDU-Kreisverband zusammen. Der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete Nico Schulz nennt die Enthüllungen eine Pressekampagne, die der CDU schaden sollte. „Politische Gegner, die nicht auf dem Wahlzettel stehen, aber auf anderem bedruckten Papier, hatten wir gegen uns“, klagt Schulz.

Konnte Gebhardt allein einen derartigen Betrug organisieren?

Gebhardt, der mutmaßliche Fälscher von fast 1.000 Stimmen, ist heute ein Verstoßener. Sein Stadtratsmandat und die CDU-Mitgliedschaft gab er auf, seine Stelle im Jobcenter ist er los. Seit dem Herbst 2014 habe er mit dem Mann nicht mehr gesprochen, sagt OB Schmotz. Doch kann einer allein einen derartigen Betrug organisieren? Ohne dass die engsten Mitstreiter etwas ahnen? „Es gibt keinen CDU-Klüngel, der so etwas deckt“, beteuert Schmotz. Dass CDU-Kreischef Kühnel und andere für Gebhardt Briefwahlunterlagen abholten, führt Schmotz auf deren Gutgläubigkeit zurück.

Im Stendaler Landgericht, im Schatten des Doms aus rotem Backstein, wird sich am Dienstag erweisen, ob die Darstellung vom betrügerischen Einzeltäter zu halten ist. Nach Verlesung der Anklageschrift hat der Beschuldigte das Wort. Der Landrat und der Oberbürgermeister werden Prozessbeobachter im Saal haben. Wird Gebhardt seine Schuld eingestehen? Wird er sich als einziger Akteur bekennen? Oder wird er Mittäter und Mitwisser nennen?

Der Stendaler Roland als Symbol städtischen Rechts kehrte 2014 nach einigen Monaten runderneuert auf seinen Platz am Markt zurück. Ob auch das Vertrauen in die lokale Demokratie zurückkehrt - das liegt ab Dienstag in der Hand des Landgerichts.

(mz)