„Staat muss Zähne zeigen“

Der Sonntag, 01.01.2017, Seite 2
Erstveröffentlicht: 
01.01.2017

Freiburger Polizeipräsident Bernhard Rotzinger über Polizeiarbeit in ZEITEN DER ANGST

Das Jahr 2016, das mit der Terrordrohung in München und den sexuellen Übergriffen in Köln begann, geht mit den Morden an Maria L. und Carolin G. und dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt zu Ende. Der Freiburger Polizeipräsident Bernhard Rotzinger fordert eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse bei der DNA-Analyse und der Videoüberwachung.

Das Gefühl der Bedrohung hat in diesem Jahr massiv zugenommen. Bildet 2016 aus Polizeisicht eine Zäsur, Herr Rotzinger?

Das kann ich heute noch nicht beurteilen, ich stelle aber fest, dass das Sicherheitsgefühl in einem Maße beeinträchtigt ist, wie ich es in meiner 40-jährigen Dienstzeit selten erlebt habe. Die Menschen haben das Gefühl, dass die Gefährdungen massiv zunehmen. Die Zahlen für dieses Jahr liegen mir noch nicht abschließend vor, doch es lässt sich sagen, dass die Kriminalstatistik die gefühlte Gewalt nicht abbildet. Auch korrespondieren  Angst und tatsächliches Risiko oft nicht: So haben ältere Menschen häufig mehr Angst vor Kriminalität als jüngere, dabei ist das Risiko gerade umgekehrt. Ich habe noch nie höhere Strafen gefordert, aber mir ist wichtig, dass die Sanktionskette funktioniert und zwar zeitnah und angemessen: Der Rechtsstaat muss Zähne zeigen. Wenn der Eindruck entstünde, dass er sich nicht durchsetzt, ginge Vertrauen verloren und das wäre mit das Schlimmste. Denn dann meinen Einzelne, sie könnten das Recht selbst in die Hand nehmen.

Folge der wachsenden Unsicherheit sind Forderungen nach Ausweitung der DNA-Analyse, mehr Videoüberwachung, besserer Ausrüstung der Polizisten und leichterem Zugriff auf Vorratsdaten. Was davon ist geeignet, für mehr Sicherheit zu sorgen?

Ich glaube, dass viele dieser Maßnahmen geeignet sind, objektiv die Sicherheit zu erhöhen – und das Sicherheitsgefühl. Und das halte ich für sehr wichtig, weil es mit Lebensqualität zu tun hat, damit, dass freie Menschen in einem freien Land sich überall ohne Angst bewegen können.

Eine Erweiterung der DNA-Analyse haben Sie nach der Festnahme von Hussein K. gefordert, der verdächtigt wird, am 16. Oktober in Freiburg die Studentin Maria L. getötet zu haben. Sie sagten: „Das hätte uns massiv geholfen.“ Was hätte das hier genützt?

Die entscheidende Spur – das auffällig gefärbte Haar des Tatverdächtigen – hätten wir durch eine erweiterte DNA-Analyse nicht früher gefunden. Aber wenn wir gewusst hätten, dass wir einen etwa 20-Jährigen suchen, der aus Zentralasien stammt, hätten wir viele andere Tatverdächtige sofort ausschließen können und nicht überprüfen müssen. Das hätte Zeit und Kräfte gespart. Ich sage daher: Wir brauchen die Erweiterung der DNA-Analyse dringend.

Man kann kaum glauben, dass Sie bisher darauf verzichten, etwa die Hautfarbe zu erheben, wenn es möglich ist...

(lacht). Da würde der Kollege im Labor nicht mitmachen, weil er sonst seinen Job verliert. In manchen Bereichen müssen wir bildlich gesprochen mit der Fußfessel Verbrecher jagen, unsere Ermittler raufen sich manchmal die Haare. Doch diese Beschränkungen sind Teil des Rechtsstaats, den wir verteidigen. Ich kann mir vorstellen, dass die Entnahme einer DNA-Probe künftig neben den Fingerabdrücken generell zur erkennungsdienstlichen Behandlung gehören wird.

Kritiker wenden ein, damit könnten ganze Bevölkerungsgruppen in Verdacht geraten, außerdem seien die Zuordnungen mittels DNA nicht zweifelsfrei korrekt.

Es sind Annäherungswerte. Eine umfassendere DNA-Analyse würde rascher zu einem Tatverdächtigen führen und andere Bevölkerungsgruppen entlasten. Es geht mir darum, spezifisch zu bleiben: Wir wollen keine genetische Untersuchung etwa auf Krankheiten, und es geht deliktisch ja auch nicht um Ladendiebe.

Welche Ausweitung Ihrer Befugnisse fordern Sie außerdem?

Im Fall Hussein K. hat die Videodokumentation in der Straßenbahn den Ausschlag gegeben: Eine Beamtin hat auf den Bändern den Mann mit den auffällig gefärbten Haaren erkannt. Ich meine, dass wir prüfen sollten, ob die Videodokumentation im öffentlichen Raum ausgeweitet werden kann. Dabei geht es nicht darum, Bürger zu beobachten, sondern darum, im Falle einer Straftat auf die Aufnahmen zugreifen zu können. Im neuen Jahr sprechen wir mit der Freiburger Stadtverwaltung darüber, ob wir bestimmte neuralgische Punkte, an denen sich Straftaten häufen, und bestimmte Veranstaltungen künftig überwachen. Besonders nachts treffen an bestimmten Orten potenzielle Täter, potenzielle Opfer und Tatgelegenheiten zusammen. Eine Überwachung hätte auch einen Präventionsaspekt.

Welche Straßen und Plätze sollten Ihrer Ansicht nach videoüberwacht werden?

Hier möchte ich dem Gespräch mit der Stadt nicht vorgreifen. Das muss in einem öffentlichen Prozess diskutiert und entschieden werden, unter Beteiligung der Bürgerschaft und ihrer gewählten Vertreter.

Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember haben Sie mit Oberbürgermeister Dieter Salomon entschieden, den Freiburger Weihnachtsmarkt nicht abzubrechen. Wie viel Verwundbarkeit müssen wir aushalten?

Eine freie Gesellschaft ist verwundbar. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, dieses Risiko müssen wir tragen. Es geht um Balance: Wie viel Sicherheit wollen wir und wie viel Freiheit? Ich glaube, dass sich aufgrund des beeinträchtigten Sicherheitsgefühls derzeit die Waage in Richtung Sicherheit neigt. Doch wenn wir uns in der Welt umsehen, erkennen wir, dass es in Staaten mit mehr Repression und Kontrolle keineswegs weniger Anschläge gibt als bei uns.

Freiburg steht seit langem an der Spitze der Kriminalstatistik im Land. Haben Zahl und Schwere der Taten 2016 zugenommen?

Die endgültigen Zahlen liegen noch nicht vor, aber wir müssen konstatieren, dass wir verglichen mit den anderen großen Städten nicht nur bei den absoluten Zahlen, sondern auch bei der Gewaltkriminalität weiterhin den Spitzenplatz haben. Die Gewalttaten haben 2016 erneut zugenommen, doch dies ist statistisch nicht in allen Fällen so signifikant, wie es sich anfühlt. So gibt es beim Raub einen Anstieg, nicht jedoch bei Sexualdelikten im öffentlichen Raum. Wenn Sie nachts durch die Stadt gehen, ist es weniger als ein Promille der Bevölkerung, das polizeilich auffällig wird. Klar ist: Wir brauchen mehr Polizisten. Die bringen mehr als schärfere Gesetze, sind aber teurer.

Mehr Polizisten fordern Sie seit Jahren. Nach dem Mord an Maria L. wurden Ihnen nun 25 zusätzliche Bereitschaftspolizisten bewilligt. Wie viele bräuchten Sie tatsächlich?

Es fehlt uns an Ermittlern und Interventionskräften, doch eine konkrete Zahl nenne ich wohlüberlegt nicht. Unser Wunsch an das Innenministerium ist, dass die Verteilung der Polizeistellen im Land neu berechnet wird. Dabei muss die Kriminalitätsbelastung einfließen. Wir haben im Polizeipräsidium Freiburg 2400 Beschäftigte, die zuständig sind für eine Million Einwohner in fünf Kreisen. Unsere Personalsituation ist durchaus prekär. Was mehr Polizisten bringen, zeigt sich bei der Einbruchskriminalität: Im November hatten wir im Bezirk 100 Einbrüche weniger als im Vorjahreszeitraum.

Viele glauben, dass mit der Zahl der Flüchtlinge auch die der Gewalttaten steigt. Sind Ausländer tatsächlich in der Kriminalstatistik überrepräsentiert?

Das ist eine schwierige und heikle Frage, die wir für unsere Jahrespressekonferenz im Frühjahr analysieren wollen. Was wir feststellen, ist eine Zunahme von Kriminalität durch Ausländer allgemein und durch Asylbewerber im Besonderen. Wie hoch die Anzahl der Täter in den einzelnen Bevölkerungsgruppen und im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist, wollen wir bis dahin feststellen. Letztes Jahr war dies nicht möglich, weil das Statistische Landesamt uns nicht sagen konnte, wie viele Syrer, Marokkaner oder Gambier in Südbaden leben – es änderte sich ja von Woche zu Woche. Bei Betrachtung der Zahlen ist dann wichtig zu wissen, wie sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen zusammensetzen, unter hier lebenden Gambiern sind ja sehr viel mehr junge Männer als alte Frauen und junge Männer begehen in jeder Kultur die meisten Straftaten. Ich warne vor reflexartigen Aversionen gegen Flüchtlinge, sage aber: Zur Sanktionskette, die funktionieren muss, gehört die ausländerrechtliche Sanktion. Die Außenpolitik muss sicherstellen, dass die Herkunftsländer ihre straffällig gewordenen Leute zurücknehmen.

Die Zeitung „Die Welt“ hat Sie am 20. November in einem Artikel über die Suche nach dem Mörder von Maria L. mit dem Satz zitiert: „Ich habe Sorge gehabt, dass so etwas passiert.“ Was haben Sie befürchtet?

Rein statistisch war klar, dass irgendwann ein Flüchtling eine schwere Gewalttat im öffentlichen Raum begehen wird. Ich hatte Sorge, dass es Menschen gibt, die diese Tat instrumentalisieren. Ich bitte darum, dass wir auch hier spezifisch bleiben und nicht von der furchtbaren Tat eines Verdächtigen auf das Verhalten anderer Flüchtlinge schließen, denn all die Menschen, die geflohen sind und hier in Frieden leben wollen, haben damit nichts zu tun.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE SIGRUN REHM