Amtsträger erhalten im westdeutschen Bocholt Morddrohungen, der erste Politiker ist bereits zurückgetreten. Die Täter gehen professionell vor, die Ermittler sind offenbar überfordert.
Von Peter Maxwill
Es begann vor mehr als einem Jahr, die erste Strafanzeige ging am 10. Dezember 2015 bei der Polizei ein. Bocholts Bürgermeister Peter Nebelo meldete sich bei der Polizei, weil er Mails mit wüsten Beschimpfungen erhalten hatte. Seitdem haben mehrere städtische Amtsträger 107 weitere Strafanzeigen gestellt, es geht um Hunderte Hassmails, um grobe Beleidigungen und Morddrohungen.
Der erste Betroffene hat in dieser Woche Konsequenzen gezogen: Thomas Purwin, der Leiter des Standesamts der münsterländischen Stadt, ist wegen der Mails vom Amt des örtlichen SPD-Vorsitzenden zurückgetreten. Wie kann es sein, dass Kriminelle mit E-Mails ehrenamtliche Politiker aus dem Amt vertreiben - und die Polizei auch nach zwölf Monaten keine Spur zu den Tätern hat?
Untätig sind die Behörden zumindest nicht. Der Staatsschutz der Polizei Münster ermittele seit einem Jahr, sagt Behördensprecher Roland Vorholt, dabei seien die Staatsanwaltschaft, die Polizei der Kreisstadt Borken und das Landeskriminalamt involviert. Trotzdem kommen die Beamten nicht so recht voran.
Die besondere Herausforderung, sagt Vorholt, sei das sogenannte Darknet. Der oder die Täter nutzen etliche Server, Dutzende E-Mail-Adressen, wechselnde IP-Adressen, kurzum: "alle technisch verfügbaren Möglichkeiten zur Verschleierung ihrer wahren Identität".
"So eine Mail flippert dann über die Server mehrerer Länder, und wir können immer nur das jeweils letzte Land ermitteln", sagt der Polizist. Viele der Nachrichten würden über Rechner in Indonesien, Japan, Kanada, Peru oder Fidschi laufen, bevor sie in der Bocholter Stadtverwaltung oder auf den Privatadressen der Betroffenen ankämen - offenbar benutzen der oder die Täter das sogenannte Tor-Netzwerk. Welchen Weg genau die Hassmails nehmen, kann demnach nicht einmal der Absender steuern (mehr über das Darknet lesen Sie hier).
Offenbar stehen den Ermittlungen unter anderem bürokratische Hürden im Weg - etwa, weil bei Mails von ausländischen Servern stets ein Rechtshilfeersuchen gestellt werden muss. "Selbst wenn wir damit zum Beispiel in Tschechien durchkommen, müssen wir dann in Kanada das nächste stellen und so weiter", sagt Polizist Vorholt. "Das ist alles sehr schwierig."
Das Problem: Die Welle des Hasses, die zum Rücktritt von SPD-Ortschef Purwin führte, ist kein Einzelfall. Die mit Abstand meisten Beschimpfungen hat Bürgermeister Nebelo erhalten, Morddrohungen erhielt außerdem Stadtkämmerer Ludger Triphaus, im Herbst sagte der SPD-Stadtverband wegen der Nachrichten sogar seinen Parteitag ab.
Das alles erinnert an den Fall des Bocholter Linke-Politikers Rainer Sauer, der vor einigen Jahren bundesweit Schlagzeilen machte: Über Monate umzingelten Rechtsextreme wahlweise das Auto des Gewerkschaftssekretärs, feuerten Schüsse vor seinem Haus ab, schrieben ihm Nachrichten wie: "Wir werden euch ausrotten" oder "Hoffentlich putzt einer den fetten Drecksack weg".
Sauer gehört zu denjenigen, die der Polizei derzeit besonders viele Hinweise geben, wie Polizist Vorholt sagt. Vor Kurzem sah es so aus, als wäre man am Ziel: Der Verdacht fiel auf einen 46-jährigen Bocholter, Ende Oktober durchsuchten Spezialisten seine Wohnung und alle Computer, Festplatten und Handys. "Bei der forensischen Sicherung seiner Geräte ist aber exakt gar nichts herumgekommen", sagt Vorholt. Der Mann kam nach einer Befragung wieder frei.
"Davon getrieben, das alles bald zu stoppen"
Auch andere Verdachtsmomente haben sich bislang nicht erhärtet: Die Inhalte der Mails, in denen Absender wie "Adolf Hitler" die Adressaten etwa als "Judengesicht" bezeichneten, deuteten von Anfang an auf rechtsextreme Täter, auch die "Reichsbürger"-Szene geriet ins Visier. Ein konkreter Tatverdacht habe sich bislang aber nicht ergeben, so Vorholt.
Der Fall hat durchaus bundesweite Bedeutung, denn Lokalpolitiker sind seit einiger Zeit im ganzen Land heftigen Attacken ausgesetzt - mal explodieren Autos, mal pöbeln Rechte, mal schlagen mutmaßliche Asylgegner zu.
In Bocholt scheint die Polizei nach mehr als einjährigen Ermittlungen im Dunkeln zu tappen. Einiges deute auf einen Einzeltäter hin, sagt Vorholt, die unterschiedliche Diktion der Hassmails lasse jedoch eher auf mehrere Verfasser schließen. "Selbst über die Anzahl der Täter wissen wir nichts Klares", sagt Vorholt - und fügt hinzu: "Wir versuchen, alle Möglichkeiten auszureizen, und wir sind ganz davon getrieben, das alles bald zu stoppen."
Nur wie das gelingen soll, ist offenbar nicht so ganz klar.