Bundesländer verhindern Abschiebungen

Erstveröffentlicht: 
24.11.2016

Berlin ist besonders kreativ, wenn es darum geht, neue Hürden aufzubauen. Entscheidungen der Härtefallkommisson oft nicht nachvollziehbar

 

Die Diskrepanz ist offensichtlich: Seit 2014 kamen rund 1,4 Millionen Schutzsuchende nach Deutschland – doch nur jedem zweiten beschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Schutzbedürftigkeit. Die übrigen erhielten weder Asyl noch Flüchtlings-, Subsidiär- oder Abschiebeschutz.

 

Über geförderte freiwillige Ausreisen verließen in diesem Zeitraum aber dennoch nur 95.000 Migranten das Land; zusätzlich wurden rund 54.000 abgeschoben. Unter den freiwillig wie unter Zwang Zurückgekehrten waren nicht nur abgelehnte Asylbewerber, sondern auch Ausländer, die aus anderen Gründen ausreisepflichtig wurden. Sei es wegen Straftaten oder weil sie als Arbeitnehmer oder Touristen einreisten und nach Ablauf des Visums unerlaubt im Land blieben. Diese Diskrepanz empfinden aber längst nicht alle Parteien als problematisch: Besonders Linke und Grüne, aber auch viele SPD-Politiker setzen sich dafür ein, stärker als bisher auch abgelehnten Asylbewerbern den dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen.

 

Besondere Einflussmöglichkeiten bieten sich den Befürwortern eines Bleiberechts für (fast) alle auf Landesebene – denn Rückführungen sind Sache der Bundesländer. Das zeigt das Beispiel Berlin. Dort regieren die drei linken Parteien SPD, Linke und Grüne künftig gemeinsam. In ihrem Koalitionsvertrag sind Pläne skizziert, die Abschiebungen erschweren sollen. Die designierte Landesvorsitzende der Linken, Katina Schubert, beschreibt es so: „Wir können das Aufenthaltsgesetz – so rassistisch und mies es auch ist – nicht ändern, aber die Spielräume auf Landesebene können wir nutzen.“ Bei einer Basiskonferenz zum Koalitionsvertrag sagte sie laut dem „Neuen Deutschland“ vor 200 Linke-Mitgliedern: „Ich bitte darum, dass alle, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, die neuen Hebel nutzen.“ 

 

Weniger Abschiebungen


So kündigen die drei Parteien – „bezogen auf die Beendigung des Aufenthaltes“ – einen „Paradigmenwechsel“ an. „An die Stelle einer reinen Abschiebepolitik soll die Förderung einer unterstützten Rückkehr treten.“ Die Formulierung ist beachtlich, zumal in diesem Jahr bis Ende Oktober laut Senatssozialverwaltung mit 7100 wesentlich mehr Ausreisepflichtige freiwillig ausgereist sind, als abgeschoben wurden (1748). Allerdings lebten noch 14.000 Ausreisepflichtige, davon 8000 mit Duldung, laut den aktuellsten Zahlen von Ende Juni in der Bundeshauptstadt.

 

Wenn die Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer, darunter viele abgelehnte Asylbewerber, lange nicht gelingt, erhalten sie trotzdem eine Aufenthaltserlaubnis, dann die unbefristete Niederlassungserlaubnis und nach acht Jahren rechtmäßigem Aufenthalt die deutsche Staatsangehörigkeit. Voraussetzung ist, dass keine Straftaten vorliegen und der Lebensunterhalt überwiegend selbst gesichert werden kann. Fast 39.000 noch nicht eingebürgerte, aber teilweise schon vor vielen Jahren abgelehnte Asylbewerber lebten zur Jahresmitte in Berlin.

 

Trotzdem ist Rot-Rot-Grün der Status quo der Rückführungspolitik immer noch zu restriktiv; das Bündnis plant weitere Maßnahmen im Interesse der Ausreisepflichtigen: Künftig soll nicht mehr aus „Schulen, Jugendeinrichtungen und Krankenhäusern“ abgeschoben werden; Familien dürfen nicht mehr bei der Rückführung getrennt werden; und Abschiebungen in Regionen, die „aus humanitären Gründen nicht tragbar sind, wird es nicht mehr geben“.

 

Diese humanitären Gründe sind allerdings interpretationsabhängig: Während etwa das Bundesinnenministerium von Thomas de Maizière (CDU) Rückführungen nach Afghanistan nicht grundsätzlich ausschließt – obwohl dort in diesem Jahr schon mehr als 4000 Zivilisten durch Kampfhandlungen umkamen –, lehnen viele Grüne und Linke sogar Rückführungen von Roma in die Balkanstaaten ab. Grund: Sie würden dort unter Armut, Diskriminierung, Mangel an Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten leiden. Das BAMF erteilt Schutzsuchenden, die weder als asylberechtigt noch als individuell verfolgt oder als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt werden, regelmäßig den sogenannten Abschiebeschutztitel. Voraussetzung ist, dass die Behörde überzeugt ist, dass ein Migrant zwar kein Flüchtling ist, aber humanitäre Gründe gegen seine Abschiebung sprechen. 

 

Härtefallkommissionen


Schon jetzt nutzt Berlin seine Landeskompetenzen stark aus, um Rückführungen zu verhindern. Etwa bei der Möglichkeit für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer, mithilfe der 2005 geschaffenen Härtefallkommissionen trotzdem im Land bleiben zu dürfen.

 

In keinem Bundesland wird diese Möglichkeit so großzügig genutzt wie in der Bundeshauptstadt. 1540 Migranten lebten durch die Härtefallregelung zur Jahresmitte dort. Selbst in den beiden größten Bundesländern Bayern (448) und Nordrhein-Westfalen (1280) sind es in absoluten Zahlen deutlich weniger. Im kleinen Mecklenburg-Vorpommern wurden sogar nur 18 Personen als „Härtefall“ betrachtet. Der Spielraum dieser Kommissionen erklärt sich dadurch, dass sie von der Landesregierung eingerichtet werden: Sie betreiben ein gerichtlich nicht überprüfbares, rein nach dem jeweiligen Humanitätsempfinden ausgestaltetes Entscheidungsverfahren. 

 

Duldung


Ob ein Land eher viele oder wenige Asylbewerber ohne Schutzgrund wieder zurückbringt, liegt auch an der Vergabe der sogenannten Duldung. Eine solche bekommen Ausländer, die zwar ausreisepflichtig sind – etwa weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde –, deren Abschiebung aber aus verschiedenen Gründen ausgesetzt wird. Sie gelten dann im Behördendeutsch zwar weiterhin als „ausreisepflichtig“ – aber eben nicht als „vollziehbar ausreisepflichtig“.

 

In Bayern ist die Wahrscheinlichkeit, eine Duldung zu erhalten, am niedrigsten, in Bremen am höchsten. Berlin liegt in dieser Kategorie im unteren Mittelfeld. In allen Bundesländern führen „fehlende Reisedokumente“ am häufigsten zur Duldung; sie strengen sich aber unterschiedlich stark an, diese aufzutreiben. Ähnlich ist die Lage bei der sogenannten Ermessensduldung. Hier geht es um dringende persönliche Gründe, etwa die Beendigung der Schule oder die Betreuung kranker Familienangehöriger. Kein Bundesland duldete aus diesem Grund mehr Ausreisepflichtige als Berlin (736 Fälle zum 30. Juni).

 

Darüber hinaus soll laut Koalitionsvertrag in der Hauptstadt künftig „der Anspruch auf anwaltliche Betreuung und Begleitung“ auch „während der Vollstreckung aufenthaltsbeendender Maßnahmen“ gelten. 

 

Abschiebehaft


Außerdem hält die Koalition „Abschiebehaft und Abschiebegewahrsam grundsätzlich für unangemessene Maßnahmen und wird sich deshalb auf Bundesebene für deren Abschaffung einsetzen“. Auch Bremen (Regierung aus SPD und Grünen), Schleswig-Holstein (SPD, Grüne und SSW) und Thüringen (Linke, SPD und Grüne) sind für die Abschaffung. Eine Mehrheit der Bundesländer will die Abschiebehaft aber beibehalten, um das Untertauchen vor der Rückführung zu erschweren. Bundesinnenminister de Maizière will zudem die Maximaldauer des Ausreisegewahrsams auf bis zu zwei Wochen ausdehnen. Bisher ist diese sanfte Form der Abschiebehaft – in geschlossenen Wohngruppen, nicht in Gefängnissen – nur bis zu vier Tage möglich. Die entsprechende Passage eines Gesetzentwurfes wurde aber bereits von der SPD abgelehnt. Die Abschiebehaft hingegen muss von einem Richter angeordnet werden. Das ist nur möglich, wenn sich ein Migrant bereits der Rückführung entzogen hat oder eine Flucht anzunehmen ist. Zu Beginn ihrer Legislatur möchte die Berliner Koalition eine Expertenkommission einberufen, die Empfehlungen für neue Verfahrensweisen der Ausländerbehörde erarbeiten soll. Auch wird das rot-rot-grüne Bündnis „Familienzusammenführungen jenseits der Kernfamilie“ unterstützen. 

 

Abschiebebeobachter


Darüber hinaus will die Koalition „die Position des Abschiebebeobachters stärken“. Das Forum Abschiebungsbeobachtung Berlin-Brandenburg (FABB) soll Transparenz durch einen jährlichen öffentlichen Bericht herstellen.

 

In dem Forum sind neben der Bundespolizei als Vollzugsbehörde, den am Abschiebungsverfahren beteiligten Behörden der Länder Berlin und Brandenburg auch beide großen Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, das UNHCR sowie Amnesty International und Pro Asyl vertreten. Seit Anfang 2014 werden bereits auf FABB-Initiative an den Berliner Flughäfen Abschiebungen von ausreisepflichtigen Asylbewerbern durch einen Beobachter begleitet, um auf die Einhaltung von Rechtsstandards zu achten und deeskalierend zu wirken. Diese Praxis ist auch an den Flughäfen Düsseldorf und Frankfurt üblich.