Das Leben im Wagen wagen

Wagenbewohner Friedhelm Schraubitzer
Erstveröffentlicht: 
27.04.2010

Das Leben im Wagen wagen Man muss schon etwas Glück haben, um die Würzburger Wagenmenschen in ihren mobilen Domizilen zu erwischen. Sie haben Jobs, studieren, sind tagsüber unterwegs, wie die eben meisten von uns. Wenn man sie aber antrifft, kann man einiges von den Machern des Projekts Wagenleben Würzburg lernen.

 Zum Beispiel diese zehn Lektionen über die Freiheit.

Lektion 1: Selbst die Freiheit braucht ein festes Zuhause.

 

Sie wollen die ganz große Freiheit, wollen jederzeit dorthin gehen, wohin sie möchten. Immer auf Achse, immer zum Sprung bereit, immer unabhängig – das ist der Traum, den die Wagenkolonne zu leben versucht.

Dafür brauchen sie einen festen Standort, sagen die Freiheitsidealisten. Einen, den sie jederzeit verlassen können, zu dem sie aber vor allem immer wieder zurückkehren können.

Lektion 2: Freiheit ist keine Frage von Quadratmetern

 

Das Zuhause von Wolle ist knallblau und es heißt Biber. Biber ist ein zum Wohnwagen umgebauter VW-Bus. Biber ist vier Jahre älter als sein Besitzer, mit 30 Jahren also ein frischgebackener Oldtimer.

„Ich muss Biber nur zwei Meter bewegen und schon habe ich einen komplett anderen Blick aus dem Fenster“, sagt der 26-jährige Wolle, der laut Pass anders heißt.

Er will wie seine Wagen-Kollegen aber mit seinem Szene-Namen genannt werden. Wolle sitzt auf der selbst eingebauten Klapp-Couch, im hinteren Teil seines Busses.

Die Wände und Schränke sind mit Fotos beklebt. Aufnahmen vom Wagenfenster aus geschossen: französische Berglandschaften, Blicke aufs Meer, geknipst als Wolle die spanischen Küsten bereiste, Schnappschüsse vom Main, mit Schilfrohr und vorbeifahrenden Schiffen.

Eine Panorama-Vielfalt, die eine Eigentumswohnung ihm niemals hätte bieten können. „Jeder Ort ist schön, aber nur für eine gewisse Zeit“, sagt Wolle. Die Freiheit, losfahren zu können, wann und wohin man will, das fahrende Heim nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne auf Mietvertragsklauseln achten zu müssen, ein schnörkelloses, ressourcenschonendes Leben zu führen – das alles macht für ihn das Wagenleben aus.

„Hippie“, diese Schublade geht in vielen Köpfen auf, wenn Wolle von seiner mobilen Wohnung erzählt. Nur: Das Hippie-Klischee passt nicht so recht zu ihm. Wolle ist rasiert, trägt glattes, schulterlanges Haar. Zugegeben, die Wohnform sei hippieähnlich, aber mit den politischen oder spirituellen Ambitionen der Blumenkinder habe er nichts am Hut.

Wolle verdient sein Geld als Computerexperte, der für Firmen Homepages erstellt und andere IT-Probleme für sie löst. Das Know-How hat er sich selbst angeeignet. Wieder in einer ganz normalen Wohnung leben?
 
Nach einem Jahr im Wohnwagen, wäre das für ihn „unvorstellbar“, sagt er. „Zu unfrei, zu eng, zu beklemmend.“ Dem zieht er die neun Quadratmeter im Wohnwagen vor.

Lektion 3: Freiheit braucht lebendige Vorbilder

 

 

Ein Jahr ist es her, dass Wolle den Schritt gewagt hat, dass er seine Wohnung gekündigt, Biber gekauft hat und mit Sack und Pack in den Wagen gezogen ist. Der Auslöser, dem bürgerlichen Leben den Rücken zu kehren, war eine zufällige Begegnung im November 2008.

Was als harmloser Party-Small-Talk zwischen Bier und Pizza begann, sollte für Wolle zu seiner ganz privaten Offenbarung werden. „Ich war auf einer WG-Party im Steinbachtal eingeladen, trank mein Bier und kam mit Tom, einem jungen Rastamann ins Gespräch.

Er erzählte mir, dass er, seitdem er 14 ist, mit seinen Eltern auf dem Campingplatz Kalte Quelle in Würzburg lebt“, erinnert sich Wolle. Tom erzählt ihm noch mehr.

Davon, wie er sich mit 16 Jahren einen eigenen Bauwagen kaufte, wie er ihn mit Küchenhexe und Holzofen ausstaffierte. Und wie er drei Jahre später einen Mercedes-Bus ummodelte. „Wir gingen noch am selben Abend nach draußen, wo er mir seinen Wagen vorstellte. Ich war fasziniert. Da war alles vorhanden, was man braucht.“

„Die mobile Lebensweise hatte mich seit meiner Kindheit begeistert. Als 12-Jähriger ging ich in Lohr an der Mainlände spazieren, sah einen umgebauten Lkw und dachte mir: Das ist einfach genial, so will ich auch mal leben.“

Es blieb ein Kleiner-Jungen-Traum. Wolle wurde älter und größer, sein Mut, den Traum tatsächlich zu leben, von Jahr zu Jahr kleiner.

Bis zu eben jenem November-Abend: „In Toms Mercedes-Bus, dem in Würzburg stadtbekannten 'Schleppi', sah ich meine Vorstellungen in die Tat umgesetzt. Ich wusste plötzlich, dass ich meinen Traum verwirklichen kann, dass es kein Hirngespinst ist.“

Danach zögerte Wolle nicht länger: Vier Monate später zieht der Lehrersohn in seinen VW-Bus namens Biber und schließt sich Tom an.

Lektion 4: Freiheit ist ansteckend

 

 

Die Reaktionen auf Wolles Entscheidung reichten von ungläubigem Abwinken bis zu sorgenvollem Kopfschütteln. „Meine Eltern hatten große Angst. Sie waren der Meinung, das sei der Anfang meines Absturzes.“

Andere wiederum hielten ihn einfach für verrückt. Anerkennung für seinen Mut, gab es in dieser Zeit nicht. „Erst als meine Eltern mich im Wagen besucht haben und gesehen haben, dass das Leben dort funktioniert, und wie frei ich dadurch bin, haben sie ihre Meinung geändert.“

Die Wagenkolonne wächst stetig, das Projekt Wagenleben Würzburg entsteht. Noch im gleichen Monat schließt sich Jongleur und Feuerkünstler Mansen, 27, den beiden an. Mansens WG hatte sich aufgelöst und die Würzburger Mietpreise waren ihm zu hoch.
 
Im April kommt Lehramtsstudentin Lui, 23, eine Freundin von Wolle, hinzu. Im Mai sind es bereits sechs Wagen.

Nach und nach entwickelt sich so Unterfrankens einzige Wagenkolonne. Zumindest wissen weder die Stadt Würzburg noch Wolle und seine Freunde von anderen, dabei ist die Szene dank mobilem Internet sehr gut vernetzt. Laut Wolle gibt es noch eine in München und deutschlandweit nach Informationen der Wagen-Community
 
www.wagendorf.de

rund 35 sogenannter Wagendörfer. Die Hauptstadt des Wagenlebens ist Freiburg, dort leben etwa 40 Menschen dieses alternative Leben.

Lektion 5: Freiheit ist manchmal unbequem

 

 

Seit Januar 2010 hat sich die Wagenkolonne auf dem Landfahrerplatz in Heidingsfeld niedergelassen. Der ist als Quartier zum Beispiel für Sinti und Roma gedacht, wenn sie in Würzburg Station machen wollen. Bis Ende April hat die Stadt der Wagenkolonne erlaubt, dort den Winter über zu campieren.

Der hatte es bekanntlich in sich, forderte das Improvisationstalent der Wagenbewohner. „Luxus hängt von der Sonne ab“, sagt Wolle. Die Stromversorgung sichert er mit Solarzellen, die er auf dem Wagendach installiert hat.

Über ein selbstentwickeltes System speist er den Strom direkt in die Autobatterie, hält damit Geräte wie Laptop und Licht am Laufen. „Im Winter ist Sparen angesagt.“ Dauert das Aufladen der Batterie derzeit nur wenige Stunden, zog sich das im Winter vier bis fünf Tage hin.

Auch Wasser musste täglich neu herangeschafft werden. Der 200-Liter-Tank von Biber war im Winter nutzlos: Das gefrorene Wasser hätte den Behälter gesprengt. Das Nass organisierten sie sich deshalb in öffentlichen Toiletten, wo sie 15-Liter-Kanister auffüllten.

Für Wärme sorgte ein Gasofen. Trotz des spartanischen und aufwendigen Lebens, ist Wolle zu frieden: „Ich hatte mir den Winter im Wagen schlimmer vorgestellt.“

Lektion 6: Freiheit macht aus Fremden Freunden

 

 

Menschen, die unfreiwillig mit viel weniger auskommen müssen, begegnen den Profi-Vagabunden allenthalben. Etwa im Dezember, als nachts bei zehn Grad unter Null am Stadtstrand ein alter Fiat Uno neben ihnen parkt.

Darin übernachteten vier osteuropäische Straßenmusiker. Oder der Obdachlose, der ihren Weg ein paar Tage später kreuzte. „Ihr seid die High-Society des Straßenlebens. Ihr lebt 20 Zentimeter über dem Asphalt“, sagte er zu ihnen und lachte laut über seinen Witz.

Diese Begegnung hat Wolle beeindruckt: „Wenn man lebt wie wir, wenn man bei klirrender Kälte auf Parkplätzen übernachtet oder an öffentlichen Toiletten sein Wasser holt, kommt man mit Menschen in Kontakt, denen man sonst wohl nie begegnet wäre“, sagt er.

Lektion 7: Freiheit hilft, Stress zu vermeiden

 

 

Wenn alle der Würzburger Gruppe auf einem Platz versammelt sind, also keiner auf Reisen ist, parken die bunt Wohnmobile in einer Viereckformation.

Den Innenplatz nennt Wolle „Atrium“. Neben dem blauen Biber, den ein Regenbogen ziert, steht dann der „Streifenwagen“ von Mansen. Der heißt so, weil Mansen seinem weißen Gefährt einen Streifen in Polizeigrün verpasst hat. Auffällig sind auch die Sprüche auf den Gefährten. „Wagenleben, Leben wagen“, steht auf Toms Bus. Lui hat „Einfach Leben“ an ihr Wohnmobil gepinselt.

Die Atmosphäre ist familiär: Abends versammeln sich die Wagenmenschen im Atrium, in einem Stahleimer brennt ein Feuer. Freunde sind vorbeigekommen, man grillt, unterhält sich, trinkt ein Feierabend-Bier. „Wir sehen uns als mobile WG“, sagt Wolle.
 
Im Unterschied zu einer herkömmlichen WG hat ihre einen großen Vorteil: „Wir haben weniger Stress miteinander. Streitereien, weil einer den Putz-Plan nicht eingehalten hat, kann es bei uns gar nicht geben. Jeder hat seinen eigenen sanitären Bereich und seine Küche. Jeder für sich ist ein Selbstversorger“, erklärt Wolle.

Lektion 8: Auch in einem freien Land hat die Freiheit Grenzen

Mag es innerhalb der Gruppe harmonisch zugehen – von März bis September des vergangenen Jahres kam die Wagenkolonne nicht zur Ruhe.

Permanent gab es Zoff mit den Behörden. Ob Polizei oder Ordnungsamt, Kontrollen gehörten in der Anfangszeit zum Alltag der Wagenmenschen. Damals tingelte die Gruppe von Parkplatz zu Parkplatz.

Denn die Regel besagt: Man darf drei Tage auf einem öffentlichen Parkplatz verweilen, dann muss man den Standort wechseln. Aber: Offiziell ist es nicht erlaubt, im Fahrzeug zu übernachten. „So haben Beamte es uns erklärt“, sagt Wolle.
 
„Wenn die Polizei wusste, wo wir standen, fuhr sie zumindest einmal nachts vorbei, um nach dem Rechten zu sehen“, sagt er. In Bayern fühle man sich als Wagenmensch ohnehin stark kontrolliert, so Wolle.

In anderen Bundesländern sei man da entspannter. „Als wir eine Wagenkolonne in Hessen besuchten, kamen Feuerwehr und Polizei, weil sie ein herrenloses Feuer vermutet hatten. Als sie aber sahen, dass die Jungs vom Wagendorf das Feuer gemacht haben, war die Sache für sie okay.“

Für die Würzburger wird das Katz- und Mausspiel mit den Behörden immer mehr zur Belastungsprobe. Eine kurze Verschnaufpause legen sie auf einem kostenlosen Campingplatz in Thüngersheim ein, auf dem sie sich für ungefragt niederlassen.
 
„Die Situation war aber so erdrückend für uns, dass wir Anfang August auf Reise gingen, die Mittelmeerküste ab Frankreich bis in die Gegend von Barcelona“, sagt Wolle.

Lektion 9: Freiheit braucht mächtige Freunde

 

 

Mitte September 2009 kehrt die Wagenkolonne nach Würzburg zurück, stellt sich aufs Gelände des früheren akw!. Doch nach wenigen Tagen muss die Gruppe das Feld wieder räumen.
 
Der Hausmeister ist mit der Besetzung ganz und gar nicht einverstanden. Das Katz- und Mausspiel geht weiter. Die Gruppe übernachtet auf Parkplätzen, sucht derweil nach einem festen Platz, von dem sie nicht verscheucht werden kann.

Sie inserieren in Zeitschriften und im Internet. Sich auf einem kostenpflichtigen Campingplatz niederzulassen, sei keine Option. „Die wollen uns nicht“, sagt Wolle. „Wenn die Betreiber unsere bunten Wagen sehen, ist die Sache schon erledigt.“

Zufällig stolpert die Würzburger SPD-Stadträtin Gisela Pfannes über eine der Anzeigen. Sie macht sich für die Gruppe stark, spricht mit Alexander Hofmann, dem Fachbereichsleiter für allgemeine Bürgerrechte und kommunale Ordnung.

Hofmann skizziert das Problem so: „Dauerhaftes Campen auf öffentlichen Plätzen ist problematisch. Die Plätze sind zweckbestimmt, eine dauerhafte, anderweitige Nutzung wäre eine Sondernutzung. Außerdem ist die Stadt zum Wirtschaften gezwungen.

Es dürfte schwierig werden, einen dauerhaften Gratis-Stellplatz zu finden.“ Im September nimmt Hofmann erstmals Kontakt zu der Wagen-Gruppe auf. „Die Wagenbewohner haben sich kooperativ gezeigt“, erinnert er sich.
 
„Ich schätze sie als anständig ein. Deswegen stand für mich eine faire Behandlung – ohne unnötige Bürokratie – im Vordergrund.“ Anfangs erlaubt die Stadt der Wagenkolonne, sich auf der Talavera niederzulassen. Nach der Winterpause auf dem Landfahrerplatz sind die Wagenmenschen aber wohl wieder aufs Rumtouren angewiesen.

„Eine Möglichkeit könnte sein, sie vorrübergehend auf der Talavera unterzubringen. Langfristig müssen wir uns aber absprechen und schauen, welche Parkplätze sie wann und wie lange nutzen können. Eine endgültige Lösung ist noch nicht in Sicht“, sagt Hofmann.

Noch ein Gutes hat der Kontakt mit der Stadt gebracht: Seitdem gibt es keine Probleme mehr mit Ordnungsamt und Polizei, sagt Wolle.

Lektion 10: Freiheit ist eine Frage der Organisation

 

 

Um ihrem Ziel von einem festen Stellplatz näher zu kommen, sollen die Wagenbewohner ein Konzept erarbeiten, in dem sie erklären, wie sie ihr Anliegen umsetzen wollen, auch eine kulturelle Plattform zu sein. Auf ihrer Homepage schreiben sie: „Unser Wagenplatz soll nicht nur ein Platz für uns zum Leben sein.

Es sollen auch kulturelle Angebote wie Theater, Kino, Volksküche und andere Veranstaltungen stattfinden. Neben handwerklichen und kreativen Workshops sind vielfältige musikalische Projekte in Planung..“ Bislang liege das Konzept noch nicht vor, sagt Hofmann.

„Wir arbeiten daran“, sagt Wolle. Derzeit ist die Gruppe allerdings mit anderem Organisationskram beschäftigt: Das erste Wagenplatz-Festival ist in der Mache: Von Freitag bis Sonntag (30. April bis 2. Mai) soll es Musik von Drum‘n‘Bass über Ska-Punk bis Reggae geben.

Auf dem Platz in Heidingsfeld würde das nicht funktionieren – zu wenig Fläche, zu viele Nachbarn. „Wir gehen nach Gadheim bei Veitshöchheim. Da hat ein Freund ein Grundstück im Wald“, sagt Wolle. Zig Leute aus der Szene haben schon ihren Besuch angemeldet.
 
Da ist Organisationstalent gefragt. Womöglich ist das Festival ja ein guter Ideengeber für das noch ausstehende Kultur-Konzept. Wenn das überzeugt, könnten die Wagenmenschen vielleicht schon bald ein festes Zuhause haben. Eines, zu dem sie auf ihrer Suche nach der Freiheit immer wieder zurückkehren können.

Mehr Infos im Internet:

www.wagenplatz.tk