Tatort-Gerichtsmediziner und Gefängnisarzt Joe Bausch spricht im Interview mit der Leipziger Volkszeitung über den Fall al-Bakr, Haftbedingungen und Schuldzuweisungen.
Leipzig. Es sei nicht richtig, im Fall al-Bakr mit den Finger auf Sachsen zu zeigen. Vor Fehleinschätzungen sei niemand gefeit, sagt Joe Bausch - Krimifans als Gerichtsmediziner Dr. Roth aus dem Kölner Tatort bekannt. Im echten Leben ist er seit 30 Jahren Gefängnisarzt in der JVA Werl (Nordrhein-Westfalen), mit rund 900 Haftplätzen eine der größten Justizvollzugsanstalten Deutschlands.
LVZ : Nach dem Selbstmord des terrorverdächtigen Syrers Dschaber al-Bakr steht die JVA Leipzig schwer in der Kritik. Hätte der Selbstmord verhindert werden können?
Joe Bausch
: Es ist schwierig, Suizide in Gefängnissen zu verhindern. Bundesweit
bringen sich jährlich bis zu hundert Menschen im Knast um. Die Praxis in
Werl ist so, dass wir fast jeden neuen Häftling, also jemanden, den wir
noch nicht genauer kennen, grundsätzlich als selbstmordgefährdet
ansehen und leiten dann – abgestuft – Maßnahmen ein.
Das heißt konkret?
Das reicht von der
Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften bis zur Einzelhaft, aber auch
da abgestuft nach dem Grad der Selbstgefährdung. In Einzelhaft wird der
Inhaftierte im Rhythmus von einer Viertelstunde beobachtet. Wobei eine
Viertelstunde das Äußerte ist, einen Rhythmus von einer halben Stunde,
wie in Leipzig praktiziert, halten wir für nicht vertretbar.
Und innerhalb von 15 Minuten kann sich ein Gefangener nicht umbringen?
In
dieser Zeit wird es schon schwierig. Unmöglich ist es aber nicht. Denn
immer wieder kann ein Gefängnisbeamter abgelenkt werden, etwa wenn
jemand in einer anderen Zelle randaliert. Wo wir Hinweise haben, dass
die Selbstmordgefahr sehr groß ist, ordnen wir die Unterbringung in
einem besonders gesicherten Haftraum mit festeingebautem Mobilar an.
Schlägt jemand dort ununterbrochen seinen Kopf gegen die Wand, muss er
sogar fixiert und ständig und unmittelbar beobachtet werden.
Wer entscheidet darüber, wer wie untergebracht wird?
Das
entscheiden immer mehrere. Bei uns sind das Fachkräfte des ärztlichen
und des psychologischen Dienstes. Liegen unsere Meinungen auseinander,
holen wir die Meinung eines Dritten ein, eines Juristen, etwa den
Anstaltsleiter, oder eines externen Psychiaters. Die JVA Werl verfügt
heute über eine ganze Reihe von kameraüberwachten Zellen. Aller 15
Minuten wird die Kamera eingeschaltet. Darüber wurde lange diskutiert,
ob das menschenwürdig ist.
Wie ist Ihre Meinung dazu?
Die
Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte und ist grau. Einerseits bemühen
wir uns, Insassen menschenwürdig unterzubringen, wollen sie durch
angemessene Sicherungsmaßnahmen nicht in eine Situation bringen, die sie
noch depressiver macht. Andererseits müssen wir sie aber auch vor sich
selbst schützen.
Haben Sie Verständis für die Psychologin, die eine halbstündige Kontrolle für ausreichend angesehen hat?
Das
ist schwierig zu beantworten. Vor Fehleinschätzungen ist niemand
gefeit. Wie gesagt, bei uns hätte es eine solche Einzelentscheidung
nicht gegeben. Andererseits muss man sehen: Sachsens Gefängnisse legen
die Latte der menschwürdigen Behandlung von Gefangenen sehr hoch. Das
mag geschichtliche Gründe haben. Fakt ist: Die menschenwürdige und
sichere Unterbringung von Inhaftierten ist letztlich ein Spagat,
vergleichbar mit dem Tanz auf der Rasierklinge. Erinnern wir uns nur an
den Fall des ehemaligen Arcandor-Managers Thomas Middelhoff, der, weil
als selbstmordgefährdet eingeschätzt, aller 15 Minuten überwacht worden
ist. Als das bekannt wurde, brach ein Aufschrei der Entrüstung los. Von
Folter war die Rede. Nicht wenige, die damals von Folterknechten
gesprochen haben, prügeln jetzt auf die JVA in Leipzig ein, warum man
den Syrer nicht in Ketten gelegt hat. Da ist aus meiner Sicht
pharisäerhaft und beckmesserisch.
Sind die herausgerissene Deckenlampe und die beschädigte Steckdose Hinweise auf einen Selbstmordversuch?
Man
kann das so werten. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber dass
jemand im Knast randaliert, ist nicht gerade eine Seltenheit. Viele
loten so ihre Grenzen aus, manche versuchen so andere Haftbedingungen zu
erzwingen. Wir erleben fast täglich, dass sich Inhaftierte selbst etwas
antun. Manches ist so schrecklich, das kann ich hier nicht wiedergeben.
Bei vielen Inhaftierten fehlt uns einfach auch die Erfahrung. Ich denke
an Menschen, die in Nordafrika, im Nahen Osten oder in Tschetschenien
den Krieg erlebt haben, beim Militär ausgebildet wurden oder dort im
Knast saßen. Die lachen sich oft kaputt über unsere Haftbedingungen. Das
frustriert ungemein. Aber das müssen wir aushalten.
Sollte es ein zentrales Gefängnis für Terrorverdächtige geben, wie derzeit diskutiert?
Nein, die Diskussion geht mir wirklich, sorry, auf den Zeiger.
Terroristen sind Verbrecher. Das wissen wir nicht erst seit RAF-Zeiten.
Wir müssen aus dem Fall in Leipzig lernen. Ich begrüße deshalb die
Diskussion um den Selbstmord ungemein. Sie sollte nur nicht so geführt
werden, dass jetzt alle auf die Sachsen zeigen: Die sind die Blöden und
alle anderen wissen und können es besser. Nein, es geht um einen
Austausch an Erfahrungen. Der sollte nicht nur in eine Richtung gehen.
Wer schärfere Bedinungen für Gefangene fordert, muss auch sagen wie. Da
spiele ich auf die personelle Situation in den Einrichtungen an. Und auf
keinen Fall dürfen wir jetzt über Bord werfen, was wir schwer
erstritten haben: menschenwürdige Haftbedingungen.
Sie sprechen auf dem Landespräventionstag in Leipzig – worüber genau?
Sehen
Sie, auch das gibt es in Sachsen: Man kümmert sich hier gut und sehr
intensiv um Prävention. Und nicht erst seit heute. Ich spreche vom Leben
hinter Gittern. Der richtige Weg der Prävention ist es, dissoziales und
kriminelles Verhalten so früh und nachdrücklich wie möglich zu
korrigieren. Je früher wir ansetzen, umso nachhaltiger ist die Wirkung,
umso weniger Opfer werden zu beklagen sein. Und jeder Euro, der in die
Prävention investiert wird, rechnet sich später nachgewiesenermaßen im
Verhältnis eins zu acht.
Wann sehen wir Sie wieder als Dr. Roth im Tatort aus Köln?
Die jüngste Folge ist gerade abgedreht.
Es macht den Eindruck, dass die Tatortkommissare Freddy Schenk und Max Ballauf, also Dietmar Bär und Klaus J. Behrendt, mehr für Sie sind als nur Schauspielkollegen.
In der Tat. Wir haben einen guten Draht zueinander. Auch weil wir ähnlich ticken und uns für andere engagieren.
Sie setzen sich unter anderem für philippinische Straßenkinder ein, der 1997 gegründete Verein „Tatort – Straßen der Welt“ hat zahlreiche Hilfsprojekte ins Leben gerufen.
In
Manila bei Dreharbeiten hat alles begonnen. Was wir dort gemeinsam in
den Slums erlebt haben, das prägt und schmiedet irgendwie auch zusammen.
Interview: Andreas Dunte