Wie kommen Uwe Böhnhardts Spuren in Peggys Nähe?

Erstveröffentlicht: 
14.10.2016

Von Hannelore Crolly - Am Fundort des Skeletts der 2001 getöteten Peggy wurden DNA-Spuren des NSU-Terroristen Böhnhardt gefunden. Der NSU wird für eine Mordserie mit zehn Toten verantwortlich gemacht, außerdem für zwei Bombenanschläge. Der seit Mai 2013 laufende NSU-Prozess dürfte durch den Fall Peggy noch einmal gehörig durchgerüttelt werden.


Die Nachricht macht so fassungslos, dass viele zunächst an einen schlechten Scherz oder eine Zeitungsente glaubten: Die Rechtsmedizin hat DNA-Spuren des mutmaßlichen Rechtsterroristen und Mitglieds des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), Uwe Böhnhardt, am Leichnam der neunjährigen Peggy gefunden. Diese Meldung der „Bild“ haben die Staatsanwaltschaft Bayreuth und das Polizeipräsidium Oberfranken mittlerweile bestätigt.

Peggy aus dem oberfränkischen Örtchen Lichtenberg war im Mai 2001 verschwunden. Trotz intensiver Suche wurde sie anderthalb Jahrzehnte lang nicht gefunden. Erst im Juli 2016 entdeckte ein Pilzsammler ihre sterblichen Überreste, und zwar rund 15 Kilometer von ihrem Elternhaus in Lichtenberg entfernt, in der Nähe des thüringischen Weilers Rodacherbrunn. Ende September wurde das Waldstück ein zweites Mal durchsucht, weil Teile des Skeletts und einige Gegenstände fehlten, die Peggy bei sich hatte, als sie 2001 zur Schule aufgebrochen war.

Auf Twitter, wo sich die Nachricht vom DNA-Fund wie ein Lauffeuer verbreitete, reagierten viele zunächst mit Unglauben, dass die Mordserie an Migranten und die tödlich verlaufene Kindesentführung etwas miteinander zu tun haben könnten. Viele Kommentatoren vermuteten eine weitere Panne im Untersuchungslabor, wie sie bei der Suchaktion nach dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter geschehen war. Damals waren Wattestäbchen verunreinigt gewesen, weshalb vermeintliche Spuren zum Täter plötzlich an vielen und vor allem unwahrscheinlichen Orten aufgetaucht waren. Bald war vom „Phantom von Heilbronn“ die Rede.

„Umfassende Ermittlungen in alle Richtungen“

Zwar wurden sowohl die sterblichen Überreste von Peggy im selben rechtsmedizinischen Institut in Jena untersucht wie der Leichnam von Böhnhardt, der sich 2011 durch Freitod einer Festnahme entzogen hatte. Doch eine erneute Laborverwechslung bei zwei derart in der Öffentlichkeit stehenden Fällen wäre doch ein allzu unglaublicher Skandal, zumal die Reinheit von DNA-Testmaterial seit dieser Panne noch stärker überwacht werden sollte. Außerdem ist fraglich, ob allein die Anwesenheit von DNA-Spuren gleich auf eine Täterschaft von Böhnhardt hinweist.

Die Böhnhardt-DNA soll nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ auf einem Stofffetzen entdeckt worden sein, der nahe bei den sterblichen Überresten des Mädchens lag. Womöglich handelt es sich dabei um Reste einer Decke. Theoretisch könnte es sich also beim Täter auch um jemanden aus dem Umfeld von Böhnhardt gehandelt haben, der sich von diesem eine Textilie auslieh oder von ihm Besuch bekam. Allein das jedoch wäre schon eine spektakuläre Entwicklung, die die Suche nach dem Mörder von Peggy noch brisanter machen dürfte. Der Nebenklage-Anwalt Yavus Narin sagte in den „Tagesthemen“, dass nach seiner Kenntnis ein Neonazi aus dem engen Umfeld des NSU eine Hütte in der Nähe von Peggys Heimatort Lichtenberg haben soll.

Die Polizei und die Staatsanwaltschaft wollten zu derlei Fragen indes in ihrer gemeinsamen Presseerklärung am Abend keine genaue Aussage machen. Am Fundort seien zahlreiche Spurenträger sichergestellt worden, die derzeit untersucht würden. „In welchem Zusammenhang diese DNA-Spur gesetzt wurde, wo sie entstanden ist und ob sie in Verbindung mit dem Tod von Peggy K. steht, bedarf weiterer umfassender Ermittlungen in alle Richtungen, die derzeit geführt werden und ganz am Anfang stehen“, hieß es. Weitere Informationen seien aus „ermittlungstaktischen Gründen“ nicht möglich.

Klar ist aber, dass Verbindungen überprüft werden. Denn neben der thüringischen Polizei sind nicht nur das Bundeskriminalamt und das bayerische Landeskriminalamt eingebunden in die Ermittlungen, sondern auch der Generalbundesanwalt in Karlsruhe, der vor dem Münchener Oberlandesgericht als Ankläger gegen die mutmaßliche NSU-Angehörige Beate Zschäpe und mögliche Unterstützer der Rechtsextremisten auftritt.

Eine völlig andere Dimension

Dass es – wenn auch nur lose – Verbindungen zwischen den Fällen gab, ist nicht ganz neu. Denn Wolfgang Geier, der bei der Suche nach dem Entführer von Peggy eine Soko leitete, war auch einer der maßgeblichen Ermittler in einem der ersten NSU-Morde. Geiers Soko war nicht nur mit dafür verantwortlich, dass mit dem behinderten Ulvi K. der falsche Täter inhaftiert worden war. Geier hatte auch die Soko „Bosporus“ geleitet, die die Täter der Migrantenmorde fälschlicherweise im türkischen Mafia-Milieu vermutete. In beiden Fällen war außerdem der bayerische Profiler Alexander Horn eingesetzt worden, um nach dem mutmaßlichen Täter zu fahnden.

Doch dass es tatsächlich greifbare Spuren eines NSU-Mitglieds an Peggys Leiche geben könnte, hebt alles in eine völlig andere Dimension. Dass die mutmaßlichen NSU-Mörder in dieser Zeit tatsächlich zumindest im Großraum Franken unterwegs waren, zeigt schon die Blutspur, die sie hinterlassen haben: Am 9. September 2000 begingen sie – wie der NSU in seinem Bekennervideo zugibt – in der Nähe von Nürnberg den Mord am Blumenhändler Enver Simsek. Am 13. Juni 2001 erschossen nach derzeitigen Erkenntnissen Böhnhardt und sein Freund Uwe Mundlos ebenfalls in Nürnberg den Änderungsschneider Abdurrahim Özüdogru.

Peggy K. verschwand am 7. Mai 2001 in Lichtenberg in Oberfranken. Der Ort liegt ein paar Kilometer abseits der Straße, die von Zwickau, dem Unterschlupf des NSU, nach Nürnberg führt. Es ist bekannt, dass sich der NSU für seine Taten stets Wohnmobile mietete und die späteren Tatorte akribisch und langwierig auskundschaftete, um Informationen über mögliche Anschlagsziele zu sammeln. Ebenfalls mysteriös: In dem Wohnmobil, in dem sich Böhnhardt und Mundlos 2011 erschossen haben sollen, nachdem sie in Eisenach nach einem Banküberfall entdeckt worden waren, fanden die Ermittler Kinderkleidung und Spielzeug. Außerdem schilderten Zeugen im NSU-Prozess, dass Zschäpe und Böhnhardt öfter von einem Kind oder Kindern begleitet worden seien, als sie zwischen 2000 und 2011 Wohnmobile mieteten. Wer diese Kinder waren, ist bisher unklar, es könnte sich aber auch um Nachwuchs von NSU-Unterstützern handeln.

NSU mit der Zuhälterei von Kindern finanziert?

Dass allerdings rechtsextremistische Kreise und namentlich der NSU offenbar tatsächlich in pädophile Aktionen involviert waren, auch darauf hatte es in der Vergangenheit mehrere Hinweise gegeben. Auf einem der Computer, den die in München vor Gericht stehende Beate Zschäpe nutzte und der aus dem Unterschlupf des Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße stammte, fand das BKA eine große Zahl pornografischer Bilder.

Unter anderem gab es Dateien, „die den Verdacht nahelegen, einen sexuellen Missbrauch von Kindern darzustellen“, wie die Zeitung „Stuttgarter Nachrichten“ vor einem Jahr berichtete. Die Staatsanwaltschaft Zwickau hatte deshalb eine Ermittlung gegen Zschäpe eingeleitet, dann aber wieder eingestellt, weil die in München verhandelten Straftaten – Mord und schwere Brandstiftung – schwerwiegender sind und auch härter bestraft werden als der Besitz der kinderpornografischen Fotos.

Der Thüringer Neonazi und V-Mann Tino Brandt, der zum engeren Umfeld der NSU-Extremisten gehörte, sitzt in Haft, weil er Kinder zur Prostitution gezwungen hatte. 2009 hatte die Polizei in Suhl zudem nach Informationen der „Stuttgarter Nachrichten“ Hinweise erhalten, dass Brandt gemeinsam mit dem V-Mann „Küche“ des Verfassungsschutzes Thüringen einen Zuhälterring betreibe, der vor allem rumänische Jungen an Pädophile vermittelte.

Im NSU-Untersuchungsausschuss des Stuttgarter Landtags hatte daher der CDU-Obmann Matthias Pröfrock gemutmaßt, dass sich der NSU über die Produktion und den Verkauf von Kinderpornografie finanziert haben könnte. „Ermittler haben nachgewiesen, dass das Geld aus den Banküberfällen nicht ausreichte, damit das Trio damit seinen Lebensunterhalt bestritt“, sagte der CDU-Abgeordnete. „Insofern müssen wir uns die Frage stellen, ob sich die Rechtsterroristen womöglich mit der Zuhälterei von Kindern finanziert haben.“

Der ungeklärte Fall von 1993

Schon vor seinem Untertauchen war Böhnhardt zudem mit einem weiteren Fall von Kindestötung in Verbindung gebracht worden. 1993 war in Jena der neunjährige Bernd Beckmann ermordet worden, doch ein Täter wurde bis heute nicht dingfest gemacht. In der Nähe des toten Kindes war seinerzeit der Außenbordmotor von Enrico T. entdeckt worden – und T. soll ein Unterstützer des NSU gewesen sein, ihm wird vorgeworfen, dem NSU Waffen beschafft zu haben. Der Mann war außerdem ein Freund von Uwe Böhnhardt, mit ihm gemeinsam hatte er oft Ausflüge mit jenem Boot unternommen, dessen Motor nahe der Leiche gefunden wurde.

Enrico T. sagte damals vor der Polizei aus, das Boot samt Motor sei ihm eine Woche zuvor gestohlen worden, und nur Böhnhardt habe gewusst, wo es sich befand. T. gab an, dass ihm Böhnhardt eine Tat unterschieben wollte und deshalb den Motor so auffällig platziert habe. Weder ihm noch Böhnhardt hatte seinerzeit etwas nachgewiesen werden können. 2014 nahm die Staatsanwaltschaft Gera die Ermittlungen allerdings noch einmal auf, weil sie jetzt besser Spuren auswerten könne als 1993. Über ein mögliches Ergebnis ist nichts bekannt.
Kann der NSU-Prozess nun einfach weitergehen?

Der seit Mai 2013 laufende NSU-Prozess dürfte durch die Meldung noch einmal gehörig durchgerüttelt werden. Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess, forderte bereits, dass umgehend ein DNA-Abgleich an allen ungeklärten Tötungsdelikten seit 1990 vorgenommen werden müsse. Bei ungeklärten Fällen, in denen die Opfer Migranten waren, hatte die Bundesanwaltschaft schon während des NSU-Prozesses eine eingehendere Untersuchung versprochen. Doch nun verlangt Daimagüler auch eine Ausweitung auf Kindestötungsfälle.

Ähnliches forderte die Linke-Obfrau im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss, Katharina König. Sie verlangte einen Abgleich der DNA von Böhnhardt sowie der weiteren mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe mit allen ungeklärten Fällen, bei denen Kinder und Menschen mit Migrationshintergrund zu Tode gekommen seien.

Mehrere Mitglieder des Untersuchungsausschusses reagierten entsetzt auf die Nachricht vom Fund der DNA-Spuren. Sie verwiesen darauf, dass im ausgebrannten NSU-Wohnmobil Kindersachen gefunden worden seien, deren Herkunft bis heute unklar ist. „Das ist fast wie ein weiterer 4. November 2011“, sagte König in Jena. Damals starb Böhnhardt mutmaßlich durch Schüsse des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos, bevor dieser sich selbst tötete. König meinte, es sei aus ihrer Sicht derzeit völlig offen, ob der Münchner NSU-Prozess gegen Zschäpe so weitergehen könne wie bisher.