Ein Jahr nach dem Nato-Gipfel sind in Straßburg längst nicht alle Wunden verheilt. Wie wird die da die Nachricht aufgenommen, dass sich die Stadt für die Ausrichtung des G-20-Gipfels 2011 interessiert?
KEHL/STRASSBURG (bri). Keine Tafel mit dem Namen Obamas oder der anderen Größen dieser Welt erinnert auf der Passerelle des deux Rives (Fußgängerbrücke über den Rhein) an das Großereignis vor einem Jahr. Über die Spuren des Café Merkel, des Glasbaus, in dem die Kanzlerin die Staats- und Regierungschefs am Morgen des 4. April 2009 im Kehler Rheinvorland empfangen hat, ist frisches Gras gewachsen. Der Nato-Gipfel? Lange vorbei. Kehl und die Kehler haben Glück gehabt: Die Demonstration gegen den Gipfel blieb friedlich, die Stadt ohne nennenswerte Schäden.
Nur wenige hundert Meter weiter, gleich hinter der Europabrücke, ein anderes Bild: Noch immer ragt die Brandruine des einstigen Ibis-Hotels in die Höhe, vom Zoll- und Polizeigebäude blieb nur ein rostiges Geländer. Eine Treppe tiefer, im einstigen Zollhof, zerborstene Fensterscheiben, Reste verkohlter Bretter. An der Stirnseite des Regals im Innern des Gebäudes handschriftliche Notizen der Zöllner, eine offen stehende Tür, von der Decke hängen Tapetenfetzen, ein abgeräumter Schreibtisch. Wem im einstigen Straßburger Zollhof die Glasscherben unter den Schuhsohlen knirschen, der könnte glauben: Der Nato-Gipfel, das war gestern.
Verbitterung im Viertel Port du Rhin
Die 1500 Bewohner des Viertels Port du Rhin haben nicht vergessen, was
ihnen vor einem Jahr widerfahren ist. Noch heute sehen es die meisten
so, dass ihr Viertel geopfert wurde, dass man den Chaoten in ihrem
Wohngebiet freien Lauf lies – damit die Innenstadt verschont und die
Tagung der Staats- und Regierungschefs ungestört blieb. Was Wunder,
dass sie die Nachricht von Straßburgs Bewerbung um den G-20-Gipfel im
nächsten Jahr nicht eben mit Begeisterung aufnehmen. Nichts dagegen,
dass Straßburg durch solche internationalen Großereignisse seinen Ruf
als Europastadt stärken möchte, "aber bitte nicht mit
Gegendemonstrationen bei uns". Darin sind sich die meisten Anwohner
einig. Etwa 90 Prozent von ihnen leben in Sozialwohnungen, 40 Prozent
haben keinen Job, bei 70 Prozent beschränkt sich das Einkommen auf das
Existenzminimum. Lange Jahre haben sich am Rhein vergessen gefühlt,
abgeschnitten vom Straßburger Stadtzentrum sowieso.
Mit den Krawallen beim Nato-Gipfel hat sich etwas verändert: Noch am Abend des 4. April kam Straßburgs Oberbürgermeister Roland Ries ins Viertel, am nächsten Morgen hat er mit Staatspräsident Sarkozy telefoniert und Hilfen für die Bürgerinnen und Bürger gefordert. Anscheinend hat der Präsident bereits in diesem Gespräch nachgefragt, ob Straßburg bereit sei, weitere Großereignisse im Stile des Nato-Gipfels auszurichten. "Natürlich", soll Roland Ries gesagt haben, so berichtet die Straßburger Tageszeitung Dernières Nouvelles d’Alsace.
14 Millionen Euro hat Paris zugesagt; zehn für den Tram-Anschluss, der
die Einwohner vom Port du Rhin aus ihrer Isolation holen soll. Die
Entwurfsplanung für die Verlängerung der Tramlinie D bis zum Kehler
Bahnhof ist inzwischen in Auftrag gegeben. Die Apotheke, welche Chaoten
vor einem Jahr ebenfalls abgefackelt haben, ist in einem Container-Bau
untergebracht und wieder geöffnet.
Eine junge Ärztin, die eigentlich im Stadtteil Neuhof praktizieren
wollte und aus dem Viertel stammt, hat ihre Praxis eröffnet. Ein
Lebensmittelgeschäft wird bald hinzukommen; 18 Einwohner sollen in
einem Restaurant Arbeit finden, das die Stadt einrichten will. Zehn
Bürgerabende haben seit dem Gipfel stattgefunden, die Stadtführung will
die Bewohner einbeziehen in die Umgestaltung ihres Umfeldes.
Für die Schule, welche Mütter aus dem Viertel vor den Chaoten gerettet
haben, gibt es einen Generalsanierungsplan; in ihrer Nachbarschaft soll
eine neue Kinderkrippe gebaut werden. Für ein Bürohaus mit
angeschlossenem Gesundheitszentrum existieren noch keine Pläne, aber
zumindest eine Computersimulation. Das Ibis-Hotel wird im Viertel nicht
wieder aufgebaut, vielleicht entsteht es neu, dann aber an der jetzigen
Endhaltestelle der Tramlinie D, Aristide Briand. Die Nationalstraße mit
ihrem starken Lkw-Verkehr könnte bald Geschichte sein, die neue
Verbindung in den Hafen ist weit fortgeschritten, im August soll sie
eröffnet werden. Dann kann die Straße durchs Port-du-Rhin-Viertel zum
schmucken Stadtboulevard umgebaut werden, den nur noch Pkw benutzen
dürfen.
Viele Einwohner hoffen, dass all diese Pläne auch umgesetzt werden.
Bald – vor 2014, wenn OB Ries’ Amtszeit endet. So hat das Schlechte
auch etwas Gutes vorgebracht, sagen sie, wenn sie an den Nato-Gipfel
denken. Aber noch einmal darf so etwas nicht geschehen. Der G-20-Gipfel
kann stattfinden. "Aber nicht bei uns."