Eine Drohung zu viel – dieser Landrat will aufgeben

Erstveröffentlicht: 
04.09.2016

Gelnhausen.  Schmähbriefe, Beleidigungen, Schmierereien. Deutschlands Politiker haben einiges auszuhalten. Landrat Erich Pipa will nun nicht mehr.

Kanaken-Landrat, Schaumschläger, Schande für das deutsche Volk, Arschgesicht. Irgendwann kann man solche Worte nicht mehr einfach abtun und vergessen. Denn fast jedes Mal, wenn sich Landrat Erich Pipa im vergangenen Jahr irgendwo im Main-Kinzig-Kreis gezeigt hat, bekam er wieder Post. Meist unterschrieben mit „Initiative Heimatschutz Kinzigtal“. Der Absender lässt sich darin immer wieder über die Flüchtlinge im Kreis und die Politik des Landrats aus, der die Menschen nicht ablehnen will, sondern aufnehmen und integrieren.

 

Vor Erich Pipa liegt der Stapel Briefe, er breitet sie auf dem Konferenztisch in seinem Büro aus. Durch die großen Fenster schaut er täglich auf die wunderschöne, bergige, grüne Landschaft und die Stadt. Wie fast immer ist Idylle trügerisch. Einige der Bewohner des Main-Kinzig-Kreises, den er seit 2005 als Landrat und SPD-Politiker leitet, wünschen ihm nur das Schlechteste.

 

Pipa plant Rückzug aus der Politik

 

Er nimmt ein paar Briefe und liest daraus vor. „Das Netz zieht sich enger um dich“ oder „Wenn wir richtig ernst machen“, wird „deine Fresse demoliert sein“. Seit Juli 2015 geht das so. Pipa meldete sich beim Staatsschutz und erstattete mehrere Anzeigen gegen unbekannt. Jetzt kündigte er nach 29 Jahren politischer Karriere an, auszusteigen. Im Juni 2017 will er sein Amt abgeben.

 

Erich Pipa steht mit seiner Geschichte stellvertretend für Bürgermeister, Abgeordnete und Politiker, die in Deutschland derzeit einiges aushalten müssen. Auch vor Bundespolitikern macht der Hass nicht halt. Justizminister Heiko Maas (SPD) fand eine Patrone in seinem Briefkasten. Linke-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht wurde mit einer Torte wegen ihrer Flüchtlingspolitik beworfen. Und Grünen-Chef Cem Özdemir wegen der Armenien-Resolution bedroht.

 

Bereits 200 Angriffe auf Mandatsträger in diesem Jahr

 

Das Bundesinnenministerium teilt auf Nachfrage unserer Redaktion mit, dass es in diesem Jahr bereits über 200 Angriffe „gegen Amts- und Mandatsträger in Verbindung mit der Asylthematik“ gegeben habe, die polizeilich registriert wurden. Vergleichszahlen aus den Vorjahren gibt es nicht, bislang wurde die Kategorie Angriffe „gegen Politiker“ nicht gesondert beim Kriminalpolizeilichen Meldedienst erfasst. Das soll sich von diesem Jahr an ändern.

Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat mit dem Magazin „Kommunal“ eine Umfrage unter 1000 Bürgermeistern durchgeführt. Das Ergebnis: Jeder Zweite von ihnen wurde schon wegen seiner Flüchtlingspolitik beschimpft und beleidigt. Das Spektrum reicht dabei von fiesen Mails über tote Ratten vor der Haustür und eingeschlagenen Fensterscheiben.

 

Pipa unterstützt Merkel

 

Für Erich Pipa hat alles angefangen mit einem Erweiterungsbau für Flüchtlinge. Beim Richtfest verkündete er, dass sein Landkreis fast zwei Millionen Euro dafür ausgegeben hat. Aus eigenen Haushaltsmitteln, „während in Berlin nur gelabert, aber den Kommunen nicht geholfen wird“, wie er sagte. Aber der Satz von ihm, der wirklich provozierte, war dieser: „Das Boot ist nicht voll“, Pipa meinte damit, dass noch mehr Flüchtlinge kommen dürften, ginge es nach ihm.

Im Gespräch betont er, dass er Bundeskanzlerin Angela Merkel immer unterstützt habe, auch wenn sie gesagt hat, „Wir schaffen das“, und dabei nicht erklärt habe, „wie das gehen soll.“

 

Erster Drohbrief beunruhigte Pipa

 

Im Jahr 2013 kamen 700 Asylbewerber in den Main-Kinzig-Kreis, 2014 rund 1100, Pipa schätzte damals beim Richtfest, dass man Ende 2015 auf 2500 kommen würde. Was er nicht ahnte, dass es rund 6000 würden.

 

Am Tag nach dem „Boot“-Satz erhielt er den ersten Brief. Die Anrede: „Kanaken-Landrat verpiss Dich!!!“ Die ersten Sätze: „Welche Schau ziehst Du ab? Und das für so einen Schandfleck. Das Boot soll nicht voll sein? Es ist übervoll und fast alle sind eine Schande für das deutsche Volk.“ Dann kommt die Drohung: „Der Blitz soll dich treffen.“ Und: „Wir erstellen derzeit ein Bewegungsprofil von Dir. Wir wissen fast alles über Dich, Du Ratte. Fühle Dich nur nicht zu sicher.“ Der Brief beunruhigte ihn zwar, aber seiner Familie erzählte er davon nicht.

 

Landrat „wollte den Feiglingen ins Gesicht sehen“

 

Und auch erst zwei Monate später stellte er Strafanzeige. Im September wollte der Landrat ein großes Straßenfest eröffnen. Die „Initiative Heimatschutz Kinzigtal“ warnte ihn schriftlich: „Du hast dich nicht gebessert, Du stinkende Ratte. (...) Am kommenden Sonntag wirst du wieder deine Schauveranstaltung abziehen (...) Wir können jederzeit Jemanden in der Besucherschar platzieren, der Dich aus dem Weg räumt.“ Das war zu viel. Erich Pipa rief Hessens Polizeipräsidenten und den Innenminister an und stellte Strafanzeige.

 

Zum Fest ging er trotzdem. „Ich wollte den Feiglingen ins Gesicht sehen. Ich wusste ja, die sind da. Eigentlich bin ja hart im Nehmen und wollte, wenn sie was gesagt hätten, mit denen reden.“ So weit kommt es nicht. Vielleicht auch weil die Polizei anwesend ist und die Veranstaltung beobachtet, um Pipa zu schützen. Aber ein Brief, der kommt danach natürlich wieder.

 

Immer mehr Briefe kommen an

 

In den kommenden Monaten erhöht sich die Frequenz der Schreiben. Erich Pipa tritt noch einmal zur Kommunalwahl an. Im Wahlkampf wird ein Plakat verunstaltet, sein Gesicht durchgestrichen. Darauf steht: „Erwache Volksverräter Deutschland.“ Pipa ist schockiert. Aber bleibt dabei. Er tritt an. Am 6. März 2016 gewinnt die SPD mit 33,6 Stimmen die Wahl. Er ist wieder Landrat. Aber auch die AfD, die Alternative für Deutschland, feiert einen Erfolg, gleich beim ersten Mal erhält die Partei 14,6 Prozent und wird im Kreis die drittstärkste Partei. Die CDU landet bei 27,1 Prozent.

 

Zu sagen, die Briefe hätten Erich Pipa kleingekriegt, trifft es nicht ganz. Natürlich sind sie der Auslöser für den frühen Rückzug, aber Pipa ist nicht der Typ, der zurückschreckt. Vielmehr ist es ein Gespräch mit dem Staatsschutz am 16. Juni 2016, das seinen Entschluss befördert hat. Das Telefonat ergab laut Pipa, dass man noch keine Ermittlungserfolge vorweisen könne. Außerdem dass eine Hausdurchsuchung bei einem Verdächtigen nicht stattfinden werde. „Man wies mich auf den Personalmangel hin und dass wir schließlich in einem Rechtsstaat leben.“ Vor allem ärgert ihn der Hinweis auf den „Rechtsstaat“.

 

Pipa ist vom Staatsschutz enttäuscht

 

Aber das war es nicht allein: „Ich bin vom Staatsschutz enttäuscht. Ich halte jeden Tag meinen Kopf für unseren Staat hin. Aber was wird im Gegenzug getan, um Landräte, Bürgermeister und Bürger, die im Ehrenamt tätig sind, zu schützen?“ Pipa fühlt sich alleingelassen mit den Drohungen. Einen Tag später hat er Geburtstag und spricht mit seiner Familie. Es ist sein 68. Geburtstag, und eigentlich habe er immer vorgehabt, vielleicht erst mit 72 oder 73 abzutreten. Aber so?

Die Staatsanwaltschaft Hanau, bei der die Strafanzeigen Pipas liegen, bestätigt, dass man bislang keinen Beschuldigten ermitteln konnte. „Es ist halt so. Das ist zwar frustrierend und ärgerlich. Aber wir sind sämtlichen Hinweisen gründlich nachgegangen“, sagt Oberstaatsanwältin Gabriele Türmer. Auch habe man mit Erich Pipa in regem Kontakt gestanden über die polizeilichen Maßnahmen, die zu seinem Schutz getroffen wurden.

 

Polizei kann Pipa nicht schützen

 

In seinem Büro erzählt Pipa, dass der Objektschutz für sein Haus vor ein paar Wochen aus Kapazitätsgründen eingestellt worden ist. Er sagt, er will die Polizei nicht beschimpfen. „Ich sehe deren Situation. Die sind unterbesetzt und können mich nicht schützen, das ist eben meine Erfahrung.“

Pipa will die Zeit bis zum Juni 2017 für seine Politik nutzen und geht nach wie vor auf jeden Termin. Denn unterwegs bei den Leuten zu sein, das liebe er. Genauso wie auf der Bühne zu stehen und zu reden, am liebsten frei. So hätte es weitergehen können. Sozialdemokrat durch und durch. Und die Integration der Flüchtlinge ist sein Thema.

 

Pipas Mutter musste 1945 fliehen

 

Vielleicht liegt es daran, dass auch seine Mutter 1945 fliehen musste. Sie überlebte die Vertreibung der deutschsprachigen Bewohner aus Tschechien auf dem sogenannten Brünner Todesmarsch. Die Familie fand neue Wurzeln, hier im Main-Kinzig-Kreis. Das ist seine Geschichte.

Erich Pipa erhält weiterhin Briefe. In einem der letzten heißt es: Der „Heimatschutz Kinzigtal“ sei froh, dass Pipa aufhöre. Und gibt dem Landrat noch einen Auftrag mit: Er solle im Bundestag eine Petition einreichen, dass man keine Flüchtlinge mehr aus dem Mittelmeer rette. Wenn er das nicht mache, so die Schreiber, passiert was.