"Verraten und verkauft" - Großfamilie bleibt in Sachsen

Erstveröffentlicht: 
26.08.2016

Die Merjans haben wie viele Flüchtlinge eine lange Odyssee hinter sich. Zu sechst flohen sie zu Fuß aus Syrien, wollten nach Deutschland zu Verwandten. Die bulgarischen Behörden zwangen sie, Fingerabdrücke abzugeben und einen Asylantrag zu stellen. Dadurch war die Rechtslage klar: die Familie muss eigentlich zurück nach Bulgarien. Darüber sollte am Freitag das Verwaltungsgericht Chemnitz nun endgültig entscheiden.

 

Als die Merjans in Stollberg ihre erste eigene Wohnung bekamen, kam sogar Innenminister Markus Ulbig zu Besuch. Er wollte sich im April letzten Jahres vor Ort vom ehrenamtlichen Engagement überzeugen. Von Modellprojekten, die den Flüchtlingen unbürokratisch Wohnungen und erste Sprachhilfekurse bereitstellen. Ulbig ließ sich medienwirksam im Wohnzimmer der Großfamilie Merjan filmen, knabberte Teegebäck, nahm das kleinste Kind auf seinen Schoß, fragte den Mittleren, wie es in der Schule läuft. Als Vater Ahmad ihm von seiner schlechten Bleibeperspektive berichtete, dass er Angst habe, abgeschoben zu werden, verzog der Innenminister keine Miene. 

 

Einen Monat später: Abschiebung


Trotzdem erhofften sich Ahmad und seine Familie vom hohen Besuch bessere Chancen. Doch es kam anders: Gut einem Monat später standen sie schon in Handschellen am Flughafen Berlin-Schönefeld. Nach einem Tumult wurde die Abschiebung jedoch abgebrochen. Die Familie kam bei kirchlich engagierten Menschen unter, lebte dort vier Wochen. Die Abschiebung wurde unterdessen vorerst ausgesetzt. Das fünfte Kind kam Ende November zur Welt. Am Freitag sollte das Verwaltungsgericht Chemnitz über den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge entscheiden. 

 

"Verraten und verkauft"

 

Der Richter ließ sich vor allem von den Erfahrungen der Familie in Bulgarien berichten. Denn letzten Endes gibt seine Entscheidung den Ausschlag dafür, ob die Großfamilie in dieses eigentliche sichere EU-Land abgeschoben werden kann. Ahmad Merjan berichtete von unvorstellbaren Zuständen im Flüchtlingslager. Die Behörden hatten ihn von seiner Familie getrennt und gezwungen, Fingerabdrücke abzugeben und einen Asylantrag zu stellen. Obwohl, ein Formular hätte er nie ausfüllen müssen, einen Dolmetscher hätte er auch nie zur Seite gestellt bekommen.

Ohne Aussicht auf Wohnung, Arbeit oder Existenzsicherung ging das aus Syrien mitgebrachte Geld zur Neige. 2.000 Dollar habe er für ein bulgarisches Travel-Dokument hinblättern müssen. Erst dann sei er auf freiem Fuß entlassen worden mit der klaren Ansage, er solle verschwinden. "Verraten und verkauft", meint der Richter und will wissen, ob ihm denn keine Vermittlung von Wohnung, Sprachkursen oder Jobs angeboten wurde. "Nein, gar nicht", antwortet der Vater. "Wir sollten einfach abhauen. Wir hätten auch nicht bleiben können, denn Schleuser und Polizisten hatten uns unser ganzes Geld abgenommen." Mit geliehenem Geld zog die Familie weiter Richtung Deutschland. 

 

Nach der Mittagspause: Das Urteil des Richters


Nachdem der Richter nach einer kurzen Mittagspause das Urteil fällte und kurz erläuterte, fielen sich die Menschen im Verhandlungssaal um den Hals, und es flossen Tränen der Freude. Es war zu spüren, wie stark die Anspannung zuvor auf den Schultern der Familie lastete. Der Richter bestätigte die Ablehnung des Asylantrags, widersprach jedoch der Abschiebungsanordnung und erteilte ein Abschiebungsverbot. Es sei dem Gericht bekannt, dass einer Großfamilie wie den Merjans in Bulgarien Obdachlosigkeit drohe. Sie hätten keinen Zugang zu Sozialsystemen, medizinischer Versorgung und dem Schulsystem. Das verstoße gegen die europäischen Menschenrechtskonventionen, so seine Begründung.

 

Rechtsanwältin Kati Lang hatte eine leise Hoffnung, dass das Gericht so entscheidet, sicher war sie sich jedoch nicht. Es gebe immer mehr Gerichte, die diese Rechtsauffassung vertreten, dass die Bedingungen in Bulgarien für besonders schützenswerte Personenkreise, wie Behinderte, Großfamilien oder Kranke nicht menschenwürdig seien. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat nun einen Monat Zeit, auf das Urteil zu reagieren. Akzeptiert die Behörde die heutige Entscheidung, erhält die Familie höchstwahrscheinlich eine befristete Aufenthaltserlaubnis.