In wenigen Wochen, am 4. beziehungsweise am 18. September, werden in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern die neuen Landtage gewählt. Schenkt man sämtlichen Umfragen Glauben, stehen der SPD erneut herbe Verluste bevor. Im Osten und Süden des Landes teilweise kaum mehr zweistellig, erreicht sie auch bei den Umfragen zur Lage im Bund - ein Jahr vor den Bundestagswahlen - nur noch knapp über 20 Prozent. Das sind Werte, die kaum den Status einer Volkspartei rechtfertigen.
Seit dem Wahlsieg von 1998 hat die Partei die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler verloren. Die einst so stolze Sozialdemokratie ist damit heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre über 150-jährige Vergangenheit ist weit größer als ihre triste Gegenwart. Das aber ist keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Im Gegenteil: Ob in Österreich, Frankreich oder Großbritannien - überall befindet sich die Sozialdemokratie in einer schweren Krise. Wohl am schlimmsten ist die Lage in Griechenland. Dort hat man bereits den Fachbegriff der "Pasokification" geprägt und meint damit die völlige Erosion der sozialdemokratischen Pasok, die lange Zeit Staatspartei war, jetzt aber bei kaum über sechs Prozent rangiert. Wir haben es also mit einem gesamteuropäischen Niedergang von historischen Ausmaßen zu tun - mit je spezifischen Ausprägungen, aber doch gemeinsamen Ursachen. Denn: Die aktuelle Krise der Sozialdemokratie kommt nicht über Nacht. Sie hat einen weiten Vorlauf, der bereits mit Beginn der Nachkriegszeit einsetzt.
Das sozialdemokratische Jahrzehnt
Tatsächlich waren die 50er- und 60er-Jahre stark konservativ geprägt, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in ganz Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten die großen alten Männer, von Konrad Adenauer über Charles de Gaulle bis Alcide De Gasperi die politische Lage in den noch immer mental autoritären Staaten. So schufen vor allem die christdemokratisch-konservativen Parteien die Grundlage für das heutige vereinte Europa.
Erst mit dem Aufbruch der 60er-Jahre konnte sich die Sozialdemokratie Schritt für Schritt aus ihrem Schatten befreien. Und nach der Revolte von "68" kam dann ihre große Zeit. 1969 wurde Willy Brandt - nach 20 Jahren CDU-geführter Bundesregierungen - zum ersten sozialdemokratischen Kanzler gewählt. Mit seiner sozial-liberalen Koalition war nicht nur der Anspruch einer neuen Ost-, sondern auch einer völlig veränderten Gesellschaftspolitik verbunden - unter dem großen Motto: "Wir wollen mehr Demokratie wagen."
So wurden die 70er-Jahre zum eigentlichen sozialdemokratischen Jahrzehnt. "Links und frei" - dieses Diktum Willy Brandts steht exemplarisch für die geistige und kulturelle Hegemonie dieser Jahre. Damals verkörperten mit Bruno Kreisky, Olof Palme und Willy Brandt drei Sozialdemokraten den Fortschritt in Europa. Gleichzeitig wurde eine ganze Generation links sozialisiert, Hunderttausende strömten zu den Jusos und in die SPD. Wenn man unter dem "Genossen Trend" einen Zeitgeist versteht, der zur Sozialdemokratie drängt, dann meint man die 70er-Jahre.
Ein Comeback in den 90er-Jahren
Das aber bedeutet auch: Die große Zeit der SPD liegt bereits über eine Generation zurück. Denn schon die 80er-Jahre führten mit der Dominanz der Konservativen - unter Ronald Reagan, Margaret Thatcher und (wenn auch in abgeschwächter Form) Helmut Kohl - zur Dominanz einer ganz neuen Strömung, nämlich des Neoliberalismus, der schließlich auch die linken Parteien erfasste.
Zwar gelang der Sozialdemokratie in den 90er-Jahren mit New Labour und der viel beschworenen Neuen Mitte unter Tony Blair und Gerhard Schröder noch einmal ein Comeback, doch gleichzeitig begann damit auch die bis heute anhaltende Krise. Tatsächlich steht der speziell von der englischen Sozialdemokratie eingeschlagene sogenannte "Dritte Weg" für das Ende linker Politik im eigentlichen Sinne. Faktisch unterwarfen sich sowohl Tony Blair als auch Gerhard Schröder bereitwillig dem "Sachzwang Weltmarkt", etwa indem sie dem Finanzkapital völlig freie Hand ließen.
Am Ende dieser Entwicklung standen Hartz IV und die Agenda 2010 und - in fataler historischer Tradition - die Spaltung der Linken. Ausgerechnet Oskar Lafontaine, Ex-SPD-Chef und vormals nicht unbedingt der größte Befürworter der deutschen Einheit, wurde zur neuen Lichtgestalt der einstigen Ost-Partei PDS und später der neuen Linkspartei.
Tödliche Umklammerung
In der Ära Schröder-Blair wurde die Sozialdemokratie programmatisch weitgehend entkernt. Bis heute hat sie sich nicht davon erholt, was in der angepassten Stromlinienförmigkeit vieler ihrer Funktionäre zum Ausdruck kommt.
Auch deshalb hat die europäische Sozialdemokratie seit dem Einbruch des Neoliberalismus ihren Nimbus als Partei der kleinen Leute verloren. Die Folgen sind dramatisch: In Frankreich ist heute längst der Front National die neue Arbeiterpartei. Und in Österreich stimmten bei der jüngsten Bundespräsidentenwahl 86 Prozent der Arbeiter für den Kandidaten der rechtsradikalen FPÖ.
Für die SPD ist die Lage nicht komfortabler. Seit dem Aufstieg der AfD graben ihr Links- und Rechtspopulisten von beiden Seiten das Wasser ab. Gleichzeitig hat die CDU unter Angela Merkelseit Jahren die eigene Liberalisierung betrieben, wodurch sie die Mitte dominiert. Fügt man die Grünen noch hinzu, die heute den libertären Charakter des Parteienspektrums verkörpern und vielen als die moderne Fortschrittspartei gelten, sieht man, wie eng der Spielraum der SPD heute ist. Wie aber kommt sie wieder heraus aus diesem strukturellen Dilemma? Wie kann sie sich aus dieser für sie tödlichen Umklammerung befreien?
Überzeugende Führungspersönlichkeiten wie in den 70er-Jahren sind dafür sicherlich wichtig, aber nicht die zentrale Lösung des Problems. Die SPD muss vielmehr deutlich machen, dass das von Ralf Dahrendorf schon vor über 30 Jahren verkündete Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts keineswegs bereits gekommen ist. Wie hatte Dahrendorf 1983 behauptet: "Wir haben alle ein paar Vorstellungen in uns aufgenommen und um uns herum zur Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus".
Heute kann von der Selbstverständlichkeit dieser durchaus linken Werte des 20. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein, angesichts einer gesamteuropäischen rechtspopulistischen Offensive. Dagegen muss die Sozialdemokratie eine linke, solidarische Antwort formulieren.
Tatsächlich sind die Chancen dafür keineswegs durchweg schlecht. Denn nicht zuletzt mit der sogenannten Flüchtlingskrise ist eine neue soziale Frage immensen Ausmaßes in der Gesellschaft angekommen. Und auf diese gibt es bereits eine sehr einfache Antwort: Björn Höcke, der Rechtsaußen der AfD, hat klar formuliert, was er unter der "neuen deutschen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts" versteht - nämlich nicht die Frage der Verteilung von oben nach unten, sondern von innen nach außen. Sprich: den Kampf der In- gegen die Ausländer und Flüchtlinge, die am besten gleich draußen bleiben. Diesem neuen Nationalchauvinismus stehen die anderen Parteien gerade im Wahlkampf weitgehend hilflos gegenüber. Die Konservativen haben, getrieben von der AfD, ihr altes Themenmonopol bereits reklamiert: "Sicherheit, Sicherheit und Sicherheit" - lautet ihre Schwerpunktsetzung.
Demgegenüber muss die Sozialdemokratie deutlich machen, dass Sicherheit heute nur für alle gemeinsam zu haben ist, und nicht durch Ausgrenzung. Mehr Polizei allein wird für die erforderliche Integration nicht reichen, sondern nur ein großer Solidarpakt zwischen oben und unten.
Soziale Demokratie als europäisches Projekt
Die Ironie der Geschichte: Linkes, sozialdemokratisches Denken, das demonstriert gerade die Flüchtlingsfrage, wird heute dringender gebraucht denn je. Denn die Lage ist heute weit dramatischer als in den 60er- oder 70er-Jahren. In den Jahrzehnten des Kalten Krieges hatte vor allem der europäische Sozialstaat den westlichen Halbkontinent befriedet. Das sozialdemokratische Aufstiegsversprechen und die geregelte Umverteilung aus den beständigen Wachstumsgewinnen integrierten die Bonner Republik. Doch heute erodiert angesichts sinkender Wachstumsraten die Vorstellung, dass es weiterhin Solidarität durch Umverteilung geben kann. Die Folge sind dramatische soziale Spaltungen. Diese Entwicklung befördert in ganz Europa starke, populistische Führungsfiguren - und damit letztlich auch einen schleichenden Demokratieabbau. Gegen den in ganz Europa aufziehenden Autoritarismus gilt es einen anderen, sozialökologisch-demokratischen Weg zu formulieren. Angesichts der globalen Herausforderungen - Flucht, Terror, Klimazerstörung - ist dies heute jedoch nicht mehr auf nationalstaatlicher, sondern nur noch auf europäischer Ebene möglich. Deshalb bedarf es einer neuen sozialdemokratischen Offensive in Europa.
Soziale Demokratie als europäisches Projekt, lautet das Gebot der Stunde. Hier vor allem wird sich die europäische Sozialdemokratie zu bewähren haben. Offensichtlich befinden wir uns derzeit in einer Übergangsphase. Noch steht in den Sternen, ob ganz Europa auf den autoritären Weg einschwenkt oder ob es doch gelingt, die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert als europäisches Projekt zu reformulieren, um der neuen rechtspopulistischen Hegemonie Paroli zu bieten - anstatt ihr weiter hinterher zu laufen. Wie wusste es Sigmar Gabriel noch 2009, nach seiner ersten Wahl zum Parteivorsitzenden: "Willy Brandt und die SPD haben nicht ihre Antworten angepasst, sondern sie haben um die Deutungshoheit in dieser Gesellschaft gekämpft. Ihre Fragen, die Fragen und Antworten der SPD und die Anfragen und Antworten Willy Brandts, waren emanzipatorisch, aufklärerisch und damit eben links. Wir haben die Menschen zu diesen Positionen mitgenommen, sie überzeugt und dann Schritt für Schritt Mehrheiten gewonnen. Am Ende standen die emanzipatorischen, die aufgeklärten Argumente der Sozialdemokratie in der Mitte der Gesellschaft. Die Mitte war links, weil wir sie verändert haben."
Diesem Anspruch ist bis heute nichts hinzuzufügen. Nur so wird die europäische Sozialdemokratie wieder in die Erfolgsspur zurückkehren können.