Interne Dokumente zeigen, wie die Berliner Polizei den Konflikt um das Autonomen-Haus Rigaer Straße 94 monatelang eskalieren ließ.
Frank Henkel war mit sich im Reinen. „Ich stehe hinter diesem Einsatz“, sagte Berlins Innensenator im Abgeordnetenhaus über den Kampf seiner Polizei „gegen diese Chaoten“. Die Parlamentarier hatten eigens ihre Sommerferien unterbrochen. In einer Sondersitzung des Innenausschusses wollten sie ermitteln, wer die Verantwortung für den Showdown um das autonome Wohnprojekt Rigaer Straße 94 trägt. Räumungsaktionen, Straßenschlachten – hatte Henkel den Eklat mit Linksautonomen inszeniert, um sich als CDU-Spitzenkandidat im beginnenden Berliner Wahlkampf zu profilieren? Als konservativer Sicherheitspolitiker, der für Recht und Ordnung sorgt? Lächerlich, befand Henkel: „Ich brauche eine Aktion wie in der Rigaer Straße so nötig wie ein Loch im Kopf.“
Ganz so flapsig lässt sich die Affäre nicht beenden. Interne Dokumente legen den Verdacht nahe, dass Henkels Beamte den Konflikt mit linksradikalen Bewohnern seit Monaten eskalieren ließen. Sie zeigen, wie die Polizei als Freund und Helfer einen dubiosen Hauseigentümer (SPIEGEL 29/2016) beraten und ihm bei seinen fragwürdigen Methoden geholfen hat.
Die heiße Phase des Konflikts begann am 13. Januar, als ein Polizist in der Rigaer Straße einen Strafzettel wegen Falschparkens ausstellte und angegriffen wurde. Die Täter flüchteten in das Haus Nummer 94. Vielleicht wäre der sofortige Einsatz eines Streifenwagens hilfreich gewesen – stattdessen rückte neun Stunden später eine kleine Armee an: Fünf Hundertschaften der Polizei fuhren vor, ein Sondereinsatzkommando stürmte die Rigaer Straße 94, die Beamten durchkämmten das Haus und drangen in Wohnungen ein; unter anderem stellten sie Pflastersteine sicher.
Henkel konnte sich als Hardliner feiern. „Lieber ein paar Beamte mehr einsetzen, als am Ende die Kontrolle über die Lage zu verlieren“, rechtfertigte der Innensenator den juristisch fragwürdigen Einsatz. Dass sich von den Tätern so viele Stunden nach dem Übergriff keine Spur mehr fand, schien fast nebensächlich.
Es begann eine unkonventionelle Beziehung zwischen Polizei und Eigentümer. Kaum war der Trubel vom Januar einigermaßen überstanden, da wandten sich die Beamten einem neuen Konfliktfeld zu. Während sich viele Berliner um die dramatisch wachsende Kriminalität am Kottbusser Tor oder am Partygelände RAW sorgten, entdeckte der Stab von Polizeipräsident Klaus Kandt den Brandschutz in der Rigaer Straße 94 als Problem – eigentlich keine Aufgabe der Landespolizei.
Am 9. Februar empfahl ein Mitarbeiter des Stabes dem Polizeijustiziar Oliver Tölle („Lieber Olli“) per Mail, „offensiv auf den Eigentümer zuzugehen“. Er sollte offenbar Bauarbeiter in sein Haus schicken; diese könnten dann von der Polizei beschützt werden.
Im Mai beschäftigten sich Henkels Beamte erneut mit der Immobilie. Diesmal ging es dem Eigentümer darum, wie dort eine der letzten besetzten Flächen – der knapp hundert Quadratmeter große Szenetreff „Kadterschmiede“ im Hinterhof – faktisch geräumt werden könnte. Damit rechtlich nichts schiefläuft, ließ sich Polizeijustiziar Tölle einen Brief des Eigentümeranwalts André Tessmer vom 22. Mai vorlegen und bot einen ungewöhnlichen Service an: Er redigierte quasi den Text. Tessmer hatte in seinem Schreiben um „polizeiliche Unterstützung“ gebeten. Tölle beriet den Anwalt dahin, es müsse „polizeilicher Schutz“ heißen: „Sonst muss abgelehnt werden.“ Der Anwalt folgte dem Rat und verwendete in einem korrigierten Schreiben die Formulierung des Beamten.
Das Dokument begründete den gemeinsamen Schritt von Polizei und Eigentümer: Am 22. Juni räumten Bauarbeiter die „Kadterschmiede“, wiederum waren Henkels Beamte in großer Zahl präsent: 300 Polizisten sicherten die Aktion. Kurz darauf folgte jene Straßenschlacht mit Autonomen, die bundesweit Schlagzeilen machte: 123 Polizeibeamte wurden verletzt. Und nun? Ein Berliner Gericht hat die Rechtswidrigkeit der Räumung bescheinigt und den Autonomen vorerst die Rückkehr in die „Kadterschmiede“ erlaubt.
Andere Fragen bleiben offen – vor allem zum mysteriösen Eigentümer, der sich lange hinter einer Londoner Briefkastenfirma versteckte. Aus einem Schreiben, das sich in den Behördenakten findet, geht hervor, mit wem sich die Staatsmacht eingelassen hat: Leonid Medved, einem in Berlin lebenden Ukrainer, der zunächst mit Spielhallen sein Geld verdient hat. Sein Name („Sehr geehrter Herr Medved“) findet sich auf einem Brief des Eigentümeranwalts Tessmer vom 24. Juni, der die „Besitzansprüche“ in der Rigaer Straße 94 klären soll.
Bereits Anfang der Neunzigerjahre soll Medved in einen Spielhallenkrieg mit russischen Mafiosi verwickelt gewesen sein. Aktuell ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen Sachbeschädigungen. Und ein ehemaliger Geschäftspartner behauptet in einer Zivilklage, von Medved bei einem Grundstücksgeschäft um rund eine Million Euro geprellt worden zu sein. Anfragen dazu hat Medved nicht beantwortet.
In der Rigaer Straße ist die Verwunderung groß. Der Eigentümer, heißt es bei den Autonomen, dürfte Polizei und Staatsanwälte in den vergangenen Jahren häufiger beschäftigt haben als die Bewohner des Hauses.
Maik Baumgärtner, Frank Hornig, Andreas Wassermann